Der Droit Humain Österreich (DHÖ) 1923 - 2023

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Ingrid Nowotny: 100 Jahre Droit Humain Österreich

Eine Zusammenschau und Einordnung. Ingrid Nowotny ist eine Schwester der Droit Humain-Loge HELIOS zu Wien

Vorbemerkung von Rudi Rabe: Sowohl der Größe nach als auch historisch ist der Droit Humain in Österreich nach der Großloge von Österreich das zweite wichtige Freimaurersystem; in der Freimaurersprache: die zweite „Obödienz“. Der in Frankreich in den 1890er Jahren entstandene DROIT HUMAIN (deutsch: Menschenrecht) bekennt sich zur Idee der Co-Freimaurerei (= gemischte Freimaurerei); er nimmt also Frauen und Männer auf. Die ersten Logen des österreichischen DH wurden in den 1920iger Jahren gegründet. Der Wiederaufbau nach dem Freimaurerverbot der Nazis und dem Zweiten Weltkrieg begann 1955.

Der folgende Artikel wurde von Ingrid Nowotny geschrieben: im Jahr 2022, also zum 100. Geburtstag des DHÖ, der entsprechend gefeiert wurde (siehe Wiki-Links unten). Der besondere Wert ihrer Zusammenschau besteht darin, dass sie die hundert Jahre des DHÖ einbettet in die komplexe Entwicklung der Politik und der Gesellschaft des Landes ab dem späten 19. bis ins frühe 21. Jahrhundert.

Auf Vorschlag der Autorin beginnt der Artikel mit der Losung, welche die Strassenfassade des Pariser Logenhauses des Droit Humain in der Rue Jules Breton ziert.

Aufschrift in der Mitte: DANS L´HUMANITÉ LA FEMME A LES MEMES DEVOIRS QUE L´HOMME, ELLE DOIT AVOIR LES MEMES DROITS DANS LA FAMILLE ET DANS LA SOCIÉTÉ - „In der Menschheit hat die Frau dieselben Pflichten wie der Mann. Sie muss in der Familie und in der Gesellschaft dieselben Rechte haben.“
Foto: Wikimedia Commons (Marc Baronnet, bearbeitet von Christophe Dioux)


Was hat eine kleine Anzahl von Menschen in Österreich dazu bewogen, im Jahr 1922 auf dem Gedanken der Freimaurerei eine Loge zu errichten, an der Männer und Frauen mit gleichen Rechten und Pflichten teilnehmen konnten? Weder der politische noch der soziale und schon gar nicht der wirtschaftliche Hintergrund versprachen dafür einen fruchtbaren Boden.

Politisch war die Transformation einer Monarchie in eine demokratische Republik, sozial die Überwindung einer noch immer feudalen Klassengesellschaft und wirtschaftlich der Zusammenbruch gewachsener Strukturen zu bewältigen. Die Folgen der Zerstörung durch den Ersten Weltkrieg waren noch lange nicht aufgearbeitet, die Erschütterungen durch den tiefgreifenden Wandel des Gesellschaftssystems erfasste alle Lebensbereiche der Menschen, seien sie nun die Gewinner oder die Verlierer der neuen Ordnung. Wie konnte in diesem Stadium von Chaos und Unsicherheit noch Hoffnung und Aufbruchstimmung entstehen?

Das Pflänzchen war wohl noch zart und der Boden für ein gedeihliches Wachstum denkbar ungeeignet, und dennoch: der Glaube an die Zukunft, an die geistige Kraft der Menschen für einen Neubeginn ist auch in dunkelsten Zeiten nicht auszulöschen – es geht nicht nur um das physische Überleben, es geht um die Menschenwürde und um das Menschenrecht.

Wir können den Mut und die Zuversicht der Gründer nicht hoch genug schätzen: Sie haben genau das Richtige getan - im Dialog einer Loge die Welt neu zu denken, und zwar auf den Grundfesten und Grundwerten der Freimaurerei.

Die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts: Die Freimaurerei zwischen Verbot und geheimer Blüte

Die Blütezeit der Aufklärung und der Freimaurerei des 18. Jahrhunderts war für die Wiener Logen längst vorbei. Die Geheimlogen in der dunklen Zeit Metternichs waren Zielscheibe von Bespitzelung und Denunziation. Zudem wurde ruchbar, dass die nationalen Bewegungen Italiens und Ungarns von Freimaurern, an der Spitze Giuseppe Garibaldi und Lajos Kossuth, getragen war.

Im klerikalen Regime Habsburgs und im Auf und Ab der Verfassungsbewegungen in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts hatten politische Liberalität und religiöse Toleranz keinen Platz. Nur Ungarn begünstigte 1867 nach seiner innenpolitischen Verselbständigung (= „Ausgleich“) innerhalb der Habsburgermonarchie, das dadurch zu einer Doppelmonarchie geworden war, mit einem liberaleren Vereinsgesetz die Gründung von Logen.

In unmittelbarer Grenznähe zwischen Cisleithanien (= der westliche Teil der Doppelmonarchie mit Zentrum Wien) und Transleithanien (der östliche Teil mit Zentrum Budapest) entstanden in Pressburg (heute Bratislava in der Slowakei) und im heute burgenländischen Neudörfl (ungarisch: Lajtaszentmiklos) nach dem Ausgleich mit Ungarn 16 sogenannte Grenzlogen, die von den österreichischen Brüdern gerne frequentiert wurden, gar nicht so geheim, manchmal sogar ostentativ, mit Frack und Zylinder in den Bahnwaggons.

Schon in dieser Zeit – Lueger geiferte gegen die Freimauerei und die Juden - standen Brüder unterschiedlichster Weltanschauung und politischer Ausrichtung gemeinsam in der Kette, wie etwa der Großindustrielle Philipp von Schoeller und der charismatische Sozialdemokrat und Arbeitervertreter Franz Schuhmeier.

In der österreichischen Reichshälfte blieben Klagen vor dem Reichsgericht und Eingaben im Reichsrat gegen die Nichtzulassung von Logen erfolglos. Es blieben hier nur humanitäre Aktivitäten, nicht einfach zur Unterstützung Benachteiligter, sondern mit einer gewissen sozialen Botschaft: So waren etwa im Kahlenberger Kinderasyl der Grenzloge Humanitas eine fortschrittliche Pädagogik oder im Mutter-Kind-Heim „Lucina“ die Beratung über die Empfängnisverhütung kein Tabu mehr

Die konkrete Arbeit in den sozialen Institutionen wurde freilich nicht von den Männern erbracht, sondern hier kamen die Frauen, meist die Ehefrauen, „zu hohen Ehren“. Damit ist auch schon die Haltung der Freimaurer zu Frauen abgesteckt: Gleichheit bleibt ein leeres Wort. Es ist müßig, hier die Wortmeldungen der Brüder zur potenziellen Aufnahme von Frauen zu wiederholen – sie sind einfältig, kurios bis skurril und unterscheiden sich nicht wesentlich von den allgemeinen Äußerungen dieser Zeit „zur natürlichen Berufung der Frau als Ehefrau und Mutter“. Der Vollständigkeit halber sei als Lichtblick das Votum des Bruders Scharfmesser (ein Pseudonym?) aus dem Jahr 1902 zitiert: „… Die Freimaurerei als philosophische und fortschrittliche Vereinigung wäre als erste berufen, die Frage der Zulassung der Frauen ernstlich zu erwägen und deren Ausführung vorzubereiten.“

Wien um 1900 – zwischen Reaktion und Aufbruch

Wie heterogen war doch die Zeit in Wien um 1900: Diese Jahre sind der Inbegriff der Ambivalenz zwischen wirtschaftlichem Aufschwung und sozialer Ungerechtigkeit, zwischen Klassenherrschaft und Arbeiterelend, zwischen Dekadenz und kultureller Rückständigkeit und intellektueller Avantgarde, Integration des jüdischen Bürgertums in Kultur, Wirtschaft und Gesellschaft und Entstehen des aggressivsten Antisemitismus.

Wien war Mittelpunkt der mitteleuropäischen Kultur. Eine rasant wachsende Stadt, die die Menschen eines großen Landes verschiedener Sprachen und Ethnien magisch anzog. Auch hier: Gegensätze, die sich wie ein roter Faden durch alle Bereiche zogen. Talente aus allen Ländern der Monarchie bereicherten Wien und konnten auch reüssieren; anderseits hatten Menschen, die lediglich ihre physische Arbeitskraft einbringen konnten, nicht mehr zu hoffen als ein Leben in Armut.

Wir müssen uns bildlich vor Augen führen, dass die Vorreiter der Moderne Adolf Loos, Otto Wagner, Max Fabiani oder Joseph Maria Olbrich zeitgleich mit den – wohl auf ihre Weise genialen, aber rückwärtsgewandten, historisierenden Architekten des Ringstraßenstils – Gottfried Semper, Theophil Hansen, August von Siccardsburg, Eduard van der Nüll, oder wie sie alle geheißen haben mögen, gewirkt haben.

In der Malerei gab noch der Schwulst des „Malerfürsten“ Hans Makart den Ton an, obwohl sich schon die Moderne um Gustav Klimt, Egon Schiele, Kolo Moser oder Oskar Kokoschka formiert hatte.

Inmitten eines feudal-reaktionären, zudem noch klerikal dominierten Umfelds, konnten Arthur Schnitzler, Karl Kraus oder Peter Altenberg der selbstgerechten Gesellschaft den Spiegel ihrer Doppelmoral vorhalten.

Die Aufführung von Werken Arnold Schönbergs und Alban Bergs im Konzerthaus artete im März 1913 zum berühmten Watschenkonzert aus: Die neue Atonalität der Musik führte zu aggressiven Tumulten im Publikum, dem Wagner, Walzerseligkeit und Operetten offenbar noch näher standen.

Verbot und Diffamierung heizten die Konflikte noch zusätzlich an. Die freie Presse spielte wohl eine Rolle, wenngleich auch in einem Klima von Kontrolle und Zensur. Die schulische Bildung war noch fest in der Hand der Kirche; an den Universitäten machte sich unter dem Mäntelchen des freiheitlichen Denkens Deutschnationalismus und Antisemitismus breit. Aber: Auch Gegensätzliches, bahnbrechende intellektuelle Neuerungen, sind auf diesem Boden gediehen: Etwa die Anfänge des logischen Empirismus um Rudolf Carnap oder Hans Kelsens Rechtspositivismus, bis hin zum Tractatus Ludwig Wittgensteins, um nur einige Beispiele zu nennen.

Es war ein konfliktreiches, aber fruchtbares Nebeneinander. Die Notwendigkeit, sich gegen eine erstarrte Gesellschaft durchzusetzen, weckte offenbar Kräfte, die sich auf einem saturierten und harmonischen Boden nie hätten entfalten können – Druck erzeugt Gegendruck.

Das politische Umfeld

Demokratie und Demokratisierung war schon vor dem Ersten Weltkrieg ein Thema. Die Arbeiterschaft, das konservative und das deutschnationale Kleinbürgertum forderten die Teilhabe an der Gesetzgebung, auch die Frauen erhoben ihre Stimme.

Zugeständnisse des Kaisers und seines Klüngels beruhten nicht auf Weitsicht und Klugheit, sondern auf der Schwächung des Regimes durch die Niederlage von Königgrätz 1866. Der Weg zum allgemeinen, gleichen und geheimen Männerwahlrecht des Jahres 1907 war langsam, zögerlich und letztlich zu spät – das Parlament blieb in seiner Funktion gelähmt, Kampfrhetorik und Chaos bestimmten die Sitzungen. Eine demokratische Kultur des Parlamentarismus konnte im Vielvölkerstaat nicht mehr entstehen, das Gift des Nationalismus hatte auch die Abgeordneten erfasst.

Man mag hier die Frage stellen, wo sind die Frauen, die Suffragetten, geblieben? Die Frage ist vordergründig einfach zu beantworten: Es wäre bestenfalls das Richtige im Falschen – nach Adorno bekanntlich unzulässig - gewesen, hätten die Frauen ihre Kraft für die Teilhabe an einem in sich undemokratischen System verschwendet. Ihre Stunde hat erst 1918 geschlagen, im Übrigen früher als in anderen demokratischen Staaten.

In dieses ambivalente Spiel passt auch die Situation der Freimaurerei: In der österreichischen Reichshälfte verboten, jenseits der Grenze in der ungarischen Reichshälfte höchst aktiv gelebt. Das Verbot konnte den Geist nicht ausrotten - mit ein Grund, dass sich die Freimaurerei nach 1918 so rasch und einflussreich etablieren konnte.

1918 bis 1922 – eine besondere Zeit: Not und Aufbruchstimmung

1918 war nicht nur ein jahrhundertealtes Reich zerfallen, auch die Staatsstrukturen - die institutionellen Grundlagen für eine effiziente Gesellschaftsordnung - waren schwer angeschlagen. Die große Aufgabe war nicht nur die längst fällige Ablöse eines in sich morschen feudalen Systems durch Demokratie und Rechtsstaat, sondern die unmittelbare Herstellung geregelter Bahnen für die Verteilung des noch Verbliebenen: Es ging um das Überleben, um Nahrung, Wohnung, Gesundheit, wirtschaftliche Grundversorgung, Schutz vor Übergriffen, um die Sicherung der Existenzgrundlagen der Bevölkerung zumindest auf niedrigstem Niveau.

Man möchte meinen, dass vor diesem Hintergrund eine revolutionäre und radikale Umwälzung der Gesellschafts- und Wirtschaftsordnung stattfinden hätte müssen. Im verbliebenen Österreich war dies nicht der Fall, im Gegensatz zu den revolutionären - und letztlich blutig gescheiterten - Räteregierungen in München unter Kurt Eisner und in Ungarn unter Béla Kun. Die Träger der politischen Verantwortung haben erkannt, dass das alte System in nicht mehr weitezuführen und eine Neuordnung der Gesellschaft Gebot der Stunde war.

Ein Beispiel für diese Haltung mag gewesen sein, dass kein selbsternanntes „Revolutionskomitee“, sondern die seinerzeit demokratisch in den Reichsrat gewählten deutschsprachigen Abgeordneten am 12. November 1918 die Gründung der Republik als selbständigen Staat „Deutsch-Österreich“ beschlossen. So war zumindest formal eine gewisse Kontinuität und eine demokratische Legitimation gewahrt und Einvernehmen über die Herstellung einer staatlichen Ordnung in Ansätzen erzielt. So kann hier anstatt vieler anderer Hans Sylvester zitiert werden, der später im nationalsozialistischen Konzentrationslager Dachau ums Leben gekommene vorletzter Präsident des österreichischen Abgeordnetenhauses: „Die Nachfolgestaaten hätten nicht binnen weniger Wochen selbstständige Staaten bilden können, wenn nicht die Gesetze, die sie vom alten Staat übernahmen, im österreichischen Abgeordnetenhaus beschlossen worden wären.“

Es war keine Stunde Null. Neues sollte nicht auf bewusster Zerstörung, sondern auf der Basis konsensualer Zusammenarbeit entstehen - ein Prinzip, das der freimaurerischen Symbolik des Baus am „Tempel der Humanität“ entspricht: Ein tragfähiger Bau kann nur durch konstruktives Zusammenspiel aller Kräfte - und stehen sie einander auch diametral entgegen – geplant, finanziert, errichtet und zu Ende geführt werden.

Die Zeit des Konsenses währte nur kurz, brachte aber auf vielen Gebieten zukunftsweisende und auch tragfähige Neuerungen: Es ist die Zeit der Koalition zwischen der Sozialdemokratie und den bürgerlichen Christlich-Sozialen. Staatskanzler war der gemäßigte Sozialdemokrat Karl Renner, die Christlich-Sozialen standen unter der Führung des auf Konsens ausgerichteten Michael Mayr.

Das Unglaubliche geschah: die Einigung über die noch heute geltende Bundesverfassung und über die die Grundlagen des Sozialstaates, beides letzte große Gemeinschaftswerke, die bis heute das politische und soziale Gefüge Österreichs bestimmen. Bemerkenswert, dass die Bundesverfassung nach dem Zerfall der Koalition zwischen Sozialdemokraten und Christlich-Sozialen im Parlament beschlossen wurde. Selbst das Machtvakuum 1920 zwischen Rücktritt der Regierung und Neuwahlen hielt die politisch Verantwortlichen nicht davon ab, in hoher zukunftsorientierter Verantwortung den einmal erzielten Konsens über die Bundesverfassung auch umzusetzen.

Die Zeit war nicht nur durch die unmittelbaren Kriegsfolgen überschattet: Der Vertrag von St. Germain zwang Österreich nahezu unerfüllbare Zugeständnisse auf, die Inflation erschwerte die wirtschaftliche Erholung, Grenzstreitigkeiten (Burgenland, Kärnten, Südtirol) brachten noch zusätzliche Unruhe. Je länger der Abstand zum Kriegsende, desto fragiler wurde der Zusammenhalt: Die Besonnenheit der Entscheidungsträger der ersten Jahre wich einer zunehmend aggressiveren Rhetorik. Nicht mehr Renner, Mayr und Kelsen, sondern der verbal-radikale Otto Bauer und der militante Ignaz Seipel hatten nach dem Zerfall der Koalition 1920 das Sagen. Nur in Wien konnten fortschrittliche Kräfte wie der Freimaurer Julius Tandler die Rahmenbedingungen für eine sozial verwaltete Stadt schaffen. Die Gemeindebauten und das Gesundheitswesen der Stadt legen noch heute Zeugnis davon ab.

1922 bis 1934: Das unaufhaltsame Ende der Demokratie

Die weitere Geschichte verlief in traurigen Bahnen: Der politische Diskurs polarisierte sich zunehmend und führte vor dem Hintergrund der Wirtschaftskrise geradlinig in die Diktatur des Austrofaschismus: 1933 traten die drei Präsidenten des Nationalrates zurück und der damalige christlich-soziale Bundeskanzler Engelbert Dollfuß sah seine Stunde gekommen. Er dekretierte die „Selbstausschaltung des Nationalrats“ und war damit das lästige Parlament mit seiner lautstarken Opposition los. Handstreichartig erließ er eigenmächtig ohne Parlament die autoritäre Verfassung des Ständestaates – die Grundlage für die Diktatur des von den neuen Machthabern so bezeichneten „Ständestaates“ (= „Austrofaschismus“).

Für die Freimaurerei war die Dollfuß-Schuschnigg-Diktatur - Kurt Schuschnigg war der Nachfolger von Dollfuß, nachdem dieser bei einem missglückten Nazi-Putsch ermordet worden war - der erste Schritt zu ihrem Todesstoß durch das NS-Regime. Die Kontrolle der Großloge von Wien (= Vorläufer der heutigen Großloge von Österreich wie auch des Droit Humain durch die Staatspolizei der Ständediktatur war unerträglich, sodass viele Brüder und Schwestern um ihre bürgerliche Existenz fürchteten und die Kette verließen.

Die Freimaurerei nach 1918: Aufleben und gewaltsames Ende

In der jungen Republik hatte sich die Freimaurerei rasch etabliert. Die Arbeit in den Grenzlogen trug Früchte; die Brüder konnten sie nach der Zäsur des Krieges ins nunmehr kleine Österreich transferieren und hier fortführen - nicht nur das, man kann von einem Aufleben der Freimaurerei sprechen. Rauschend waren die zwanziger Jahre nicht, golden schon gar nicht, dennoch war in den Logen eine Aufbruchstimmung zu spüren, und zwar in dem Sinne, dass Freimaurerei auch gesellschaftliche Verantwortung bedeutet. Nicht von ungefähr ist die Arbeit am Fortschritt der Menschheit einer ihrer zentralen Werte.

Schon im November 1918 wurde die Großloge von Wien gegründet, die Zahl ihrer Mitglieder wuchs rasch. Große Geister wie Ferdinand Hanusch, Julius Tandler, Alfred Fried oder Richard Coudenhove-Calergi schlossen sich ihr an, wohl in der Überlegung, unter der Deckung der Loge frei mit Andersdenkenden in Diskussion zu treten. Die Rechnung ging auf: Wir haben in letzter Zeit der Entstehung der österreichischen Sozialgesetzgebung vor 100 Jahren gedacht – sie ist das Werk von Freimaurern dieser Jahre und gilt im Wesentlichen noch heute.

Wie hätte in den Jahren 2020/22 die Corona-Krise bewältigt werden können ohne funktionierendes Gesundheitssystem, ohne arbeitsrechtliche Absicherungen, ohne Kurzarbeit oder ohne Mindestsicherung - alles Errungenschaften dieser Zeit. Ferdinand Hanusch traf in der Loge „Lessing“ seinen Schulfreund Josef Trebitsch, der eine Sozialdemokrat, Minister und Gewerkschafter, der andere Großindustrieller und Vertreter des liberalen Flügels der Unternehmer - politische Gegner mit diametral auseinandergehenden Interessenlagen. Und dennoch, sie trafen einander auf der Basis des gemeinsamen maurerischen Wertekanons. Sie haben als Politiker die Grundlagen für den österreichischen Weg der Sozialpartnerschaft gelegt; noch heute beruht unser Arbeits- und Sozialrecht auf diesem Modell. Nicht von ungefähr werden wir von anderen von Streiks und Arbeitskämpfen gebeutelten Ländern darum beneidet.

Die Gründung des Droit Humain Österreich

Frauen blieb trotz einzelner Befürworter der Weg in die österreichische traditionelle Männer-Freimaurerei versperrt. Im fortschrittlichen Klima der frühen zwanziger Jahre war jedoch ihre Stimme nicht mehr zu überhören. Der Weg an die Universität und in akademische Berufe wurde erkämpft. 1922 wurde neben einer Reihe anderer Frauenvereinigungen von Pionierinnen und ersten Dozentinnen der Verband der Akademikerinnen gegründet. Wenngleich zwischen der bürgerlichen Frauenbewegung und den Frauen der Arbeiterinnenbewegung Welten lagen, so war doch ein gemeinsames Ziel zu erkennen: die Forderung nach Gleichberechtigung.

Das Frauenwahlrecht und damit die politische Mitbestimmung war erreicht; das allerdings war zu wenig, wenn es um die Gleichstellung in allen Lebensbereichen ging. Voraussetzung für die politische, gesellschaftliche und wirtschaftliche Teilhabe der Frauen ist eine egalitäre Gesellschaft. Davon war man noch weit entfernt; noch immer waren Klassenschranken, ein immenses Einkommensgefälle oder der Einfluss der Kirche zu überwinden. Es ist nutzlos, Frauenrechte zu etablieren, wenn sie wieder die allgemein – auch für Männer - ungerechten Verhältnisse zementieren. Wenn die Lage der sozial Schwachen generell schlecht ist, so ist sie für Frauen umso schlechter; der Arbeiterin geht es schlecht, auch wenn sie gleichberechtigt nur den niedrigsten Lohn bekommt.

Der Hintergrund: die progressive französische Freimaurerei

In dieses Umfeld stößt nun die Gründung des Droit Humain in Österreich: eine freimaurerische Variante, die wenige Jahrzehnte vorher in Frankreich gegründet wurde. Die französische Freimaurerei ist zum Unterschied von der österreichischen, von England dominierten (Männer-)Freimaurerei nicht nur offener, sondern auch politischer. Der Droit Humain hatte keine Berührungsängste mit konkreten politischen Strömungen, auch nicht mit radikalen. Die Gründerin Maria Deraismes – schon zuvor eine bekannte Rednerin und Schriftstellerin - war zweifellos das, was man heute eine links orientierte Feministin nennen würde.

Das einschneidende Erlebnis war die Niederlage Frankreichs im deutsch-französischen Krieg und der Aufstand der Pariser Commune im Jahr 1871 gegen die von Bismarcks Gnaden eingerichtete politische Führung Frankreichs. Die Kommunarden kämpften für die Republik – in der Abstimmung nach der Niederlage gegen Deutschland waren die Monarchisten nur äußerst knapp unterlegen -, für soziale Gerechtigkeit, gegen das Diktat der Kirche, für die Gleichstellung der Frauen, sie verfolgten linke Ideale, bisweilen mit kommunistisch-anarchistischen Zügen.

Der Aufstand endete in einem Blutbad: 35.000 Aufständische fanden den Tod in den Kämpfen mit den Regierungstruppen, 147 wurden an der Mauer des Père Lachaise-Friedhofes hingerichtet. Maria Deraismes war als militante Republikanerin und Feministin mit Louise Michel und André Leo auf die Seite der Aufständischen, wenngleich sie weniger für den radikalen als für den reformistischen Weg war. Sie bekämpfte als antiklerikale Freidenkerin das Diktat von Religion und Kirche.

Die Rahmenbedingungen für die Gründung des Droit Humain 1893 in Paris sind ambivalent zu sehen: Einerseits war Frankreich in den zwanzig Jahren nach den Kriegen wirtschaftlich wieder einigermaßen konsolidiert und die Gesellschaft den Ideen von Fortschritt und Demokratie näher als in vielen anderen Ländern, anderseits war auch die liberalere französische Freimaurerei noch immer patriarchalisch ausgerichtet und gegen die Aufnahme von Frauen.

Der Versuch einer Aufnahme Maria Deraismes´ in eine Loge der Grand Loge Symbolique Écossaise „Les Libres Penseurs“ scheiterte, so wählte sie mit dem Arzt und Abgeordneten Georges Martin den Weg, eine eigene, und zwar gemischte, Obödienz zu gründen. Die Vorteile lagen auf der Hand: Unbelastet sollten Frauen mit Männern auf Augenhöhe kommunizieren. Zu Recht wollten sie keine Frauenloge - ein Konzept, das die Gefahr in sich trägt, interobödienzielle Gräben aufzureißen, hie die Frauenlogen, hie die Männerlogen. „Gemeinsam“ ist die Devise von Droit Humain, nicht Männer und Frauen gegeneinander.

Die Gründung war ein bewusster Akt, sich von anderen maurerischen Gruppierungen zu unterscheiden, und zwar durch das klare Bekenntnis zu gesellschaftspolitischen Änderungen. Die Arbeit am Rauhen Stein war politisch zu verstehen: nicht mehr nur nach innen, sondern auf das Ziel der Schaffung einer „gerechteren“ Gesellschaft, auf die Verbesserung der materiellen, moralischen und ethischen Lebensgrundlagen der Menschen gerichtet. Mitglieder des Droit Humain bekämpften soziale Ungerechtigkeit und scheuten auch nicht vor der Unterstützung radikal-progressiver und linksliberaler Gruppierungen zurück.

Die technischen Errungenschaften und die industrielle Revolution der Belle Époque brachten wohl ein Vielfaches der Produktion von Gütern, die Wirtschaft prosperierte, förderten aber auch soziale Gegensätze: Armut, Arbeiterelend, Streiks und deren gewaltsame Niederschlagung waren die Folge des ungezügelten Kapitalismus. Der friedliche Erster-Mai-Aufmarsch der Arbeiter endete 1891 durch die Schüsse der Gendarmerie auf die Arbeiter im „Massaker von Foumies“ mit Toten und Verletzten. Victor Hugo und Emile Zola (dessen österreichische Wurzeln im Übrigen vergessen sind: Sein Vater Franz Zola hat führend am Eisenbahnbau Linz-Gmunden mitgewirkt) schildern aufrüttelnd die sozialen Abgründe dieser Zeit.

Mit harter Kritik hatte Maria Deraismes schon zuvor soziale Ungleichheit, Unterdrückung und Ausbeutung angeprangert. Im Kampf gegen patriarchale Strukturen und dem Recht auf Bildung für alle bringt sie sich bei den entsprechenden Kodifikationen ein. Die Macht der katholischen Kirche auf das zivile Leben, insbesondere im Bildungsbereich, zu brechen, war der Freidenkerin ein besonderes Anliegen; 1906 fanden diese Forderungen ihren Niederschlag in der Gesetzgebung über die Trennung von Kirche und Staat, eine wichtige Basis für Gedankenfreiheit und freie Meinungsäußerung – „laicité“ ist bis heute eine wichtige Säule der französischen Gesellschaft.

Der Kampf für die Rechte der Frauen zieht sich wie ein roter Faden durch die gesamte Aktivität von Maria Deraismes. Sie sah den Feminismus zwar radikal, aber nicht isoliert. Für sie war er Teil des gesamten egalitären Gesellschaftskonzepts. Nur in einem demokratisch-republikanischen System, ohne Ungleichheit und Klassenschranken können Frauen ihr Recht auf Gleichheit frei und unabhängig von den Schranken einer bestimmten sozialen Position auch umsetzen.

Mir der Konsoliderung der Republik milderte sich auch die Radikalität von Maria Deraismes, sie schlug pragmatisch und klug den reformistischen Weg ein. So konnten ihr auch die Brüder und Schwestern von Droit Humain uneingeschränkt folgen und dies auch öffentlich bei Manifestationen kundtun, wie etwa durch Teilnahm bei den Demonstrationen anlässlich der Jahrestage der Vernichtung der Parier Commune.

Maria Deraismes war kein langes freimaurerisches Leben im Droit Humain gegönnt – sie starb am 4. Februar 1894, ein Jahr nachdem sie ihre erste Loge gegründet hatte. Umso lebendiger ist die Erinnerung an ihren Geist und an ihr Wirken für eine bessere Welt.

Der Weg in Österreich

Die Rahmenbedingungen für Droit Humain drei Jahrzehnte nach seiner Gründung in Paris waren in Österreich vollkommen anders: kein prosperierendes Umfeld, eine geschlagene Nation, deren Selbstfindung auf Ideen und Hoffnungen, nicht aber auf einer selbstbewussten Gesellschaft und auf einem konsolidierten Staatswesen beruhte. Und dennoch wurde im Jahr 1922 in Wien die erste gemischte Loge des Droit Humain gegründet: Loge Nr. 756 „Vertrauen“ im Orient zu Wien. 1928 wurde das Licht in die Loge „Harmonie“ eingebracht. Zur Zeit der Blüte in den zwanziger Jahren wuchs die Zahl der Mitglieder auf 200 an.

Wie Susanne Balazs im Beitrag zu Quattuor Coronati, Berichte 2016, schreibt, „war es den DH-Logen zumindest für einige Jahre vergönnt, ihr Logenleben zu entfalten: Man traf sich jede Woche, es gab Arbeitstage und Festarbeiten, Sommerzusammenkünfte, Trauerarbeiten, Baustücke mit Diskussionen, harmonische und polarisierte Stimmungen, Einweihungen, Lohnerhöhungen sowie Austritte und Ausschlüsse. Vieles erinnert an heutige Zeiten: Die Mitglieder kamen zur Arbeit oder auch nicht, sie entschuldigten sich oder auch nicht, sie hielten Baustücke, manchmal spannend, aber manchmal eben nicht. Doch ob sie streitbar oder harmonisch miteinander umgingen – der Schriftführer oder die Schriftführerin hielt viele Details fest.“

Die Quellen zur Gründung und zur Arbeit der ersten Logen 1922 und 1928 sind jedoch bei weitem nicht vollständig erhalten. Zur Schließung von Lücken können nur Rückschlüsse auf die Ziele der Gründer und auf die Arbeit in der Loge gezogen werden. Die aufschlussreichste und lebendigste Quelle sind die gut dokumentierten mündlichen Berichte von überlebenden Brüdern und Schwestern nach dem Zweiten Weltkrieg.

Die meisten Unterlagen fielen der Gewalt des NS-Regimes zum Opfer: Es ist nur zu verständlich, dass vieles vernichtet wurde um es dem Zugriff der Geheimen Staatspolizei zu entziehen und keines der Mitglieder zu gefährden. Auch die Furcht vor Verrat war nicht unbegründet, zumal ein Bruder der Gestapo mitgeteilt hatte, er sei (aus einer nicht mehr mit Sicherheit identifizierbaren Loge) ausgetreten, „weil die jüdischen Mitglieder überhand genommen“ hatten. Der Bericht der Staatspolizeistelle Wien liegt vor.

Die Wiener Gründergeneration

Was auffällt ist das Naheverhältnis der Gründergeneration zur Theosophie. Die Geigerin Mary Auner und die politisch aktive Schriftstellerin Annie Besant, die prägenden Gestalten der Gründung, hängen ihr mit weiteren Logenmitgliedern an - fast ein Widerspruch zur militant antireligiösen und antispirituellen Haltung des französischen Droit Humain. Auch die Logenräume werden mit der Theosophischen Gesellschaft geteilt. Man muss hier wohl eine Konzession an den Zeitgeist machen, war doch auch die Theosophie ein Suchen nach Alternativen zu den etablierten Kirchen und Religionen. Man muss auch zugutehalten, dass trotz des theosophischen Engagements einzelner, auch führender Mitglieder, stets die strenge Trennung des Logenlebens von der Theosophie betont wurde. Die Engländerin Annie Besant war wohl ein politischer Mensch, es lässt sich aber in ihren Aktivitäten und in ihrer geistigen Ausrichtung keine kohärente Linie finden. Sie studiert nach ihrer Konversion vom calvinistischen Protestantismus zum Katholizismus katholische Theologie, schießt sich jedoch bald der Arbeiterbewegung und mit Bernhard Shaw der linksgerichteten Fabian Society an. Sie unterstützt die englische Gewerkschaftsbewegung und kämpft für höhere Löhne. Mit dem Kontakt zur Theosophie wendet sie sich den Geheimlehren der Madame Blavatsky zu und endet schließlich in Indien als Anhängerin der hinduistischen Spiritualität. Ariertum und Rassentheorien übten eine gewisse Faszinaton auf sie aus, ebenso Hellseherei, Parapsychologie und okkultistische Praktiken. Ihr Kontakt zum Wiener Droit Humain blieb auf ein kurzes Gastspiel am Anfang beschränkt.

Soweit Mitgliederlisten erhalten sind, lässt sich auch kein besonderes gesellschaftspolitisches Engagement nach außen feststellen, wohl aber eine starke Präsenz im kulturell-künstlerischen Bereich.

Hier ist in erster Linie die schon angesprochene Engländerin Mary Dickenson-Auner (1880-1965) zu nennen, die namhafte Violinvirtuosin und Komponistin ihrer Zeit. 1880 in Dublin in eine irische Adelsfamilie geboren starb sie 1965 in Wien nach einer reichen internationalen Konzerttätigkeit. Ihrem Mann, Dr. Michael Auner, war sie für einige Jahre nach Sibiu/Hermannstadt (heute Rumänien) gefolgt; er hatte dort die Stelle als Archivar im Brukental-Museum eingenommen – eine Gründung des maria-theresianischen Statthalters in Siebenbürgen Samuel von Brukenthal, ein Aufklärer, Staatsreformer und Freimaurer.

Für Mary Auner war das Zusammentreffen mit Rabindranath Tagore einschneidend; das bewog sie, sich der Weltsicht der Theosophie anzuschließen. 1922 wurde sie mit anderen bedeutenden Künstlerpersönlichkeiten in die Loge „Vertrauen“ aufgenommen. Die Jahre des NS-Regimes musste sie wieder in England verbringen, was sie aber nicht hinderte, nach 1955 ihr maurerisches Leben als führendes Mitglied der Loge „Harmonie“ in Wien wieder aufzunehmen.

Dokumentiert ist die Mitgliedschaft weiterer Künstlerpersönlichkeiten. Eine Schwester der ersten Stunde war die Malerin Johanna Kampmann-Freund. Sie war Mitglied des modernistischen Hagen-Bundes und hat uns wunderschöne Bilder des Jugendstils und Expressionimus hinterlassen. Sie war erste weibliche Trägerin des Österreichischen Staatspreises. In der NS-Zeit wurde sie mit Berufsverbot belegt.

Paul Amadeus Pisk, Schüler Arnold Schönberg und Franz Schreker, Vorreiter der atonalen Musik und bekannter emigrierte in zutreffender Voraussicht schon 1936 in die USA und reüssierte dort als Universitätsprofessor. Stefan Schlesinger – später mit seiner Frau von den Nazis ermordet - war das, was man heute einen Designer bezeichnen würde. Er entwarf Möbel im Stil seiner Zeit.

1938 wurde die Freimaurerei von den Nazis verboten und alle Unterlagen wurden beschlagnahmt, soweit sie nicht vorher wohlweislich vernichtet werden konnten. Eine Unterschrift der Schatzmeisterin Irma Stern auf einem Dokument brachte ihr 1938 die Inhaftierung ein. Das Ehepaar Rie verübte Selbstmord, um dem Konzentrationslager zu entgehen. Der Meister vom Stuhl der ersten Stunde, der Zahnarzt Dr. Fritz Engel konnte sich nach England retten. Sein in den Archiven erhaltener Brief an den neu erstandenen Droit Humain nach dem Zweiten Weltkrieg ist ein bewegendes und unschätzbares Zeugnis eines Zeitzeugen.

Das Regime der Nationalsozialisten in Österreich 1938 bis 1945 entzieht sich hier einer Beschreibung: Zu brutal waren die Gräueltaten in Österreich - und zugleich zu gründlich war aber auch die Unterstützung durch die Bevölkerung, als dass an dieser Stelle adäquate Worte gefunden werden könnten.

1945: Ende des Zweiten Weltkriegs

Das traurige Ende und die gewaltsame Auslöschung der Logen des Droit Humain im Zuge des Untergangs Österreichs war nicht das Ende der gemischten Freimaurerei in Österreich. Nach 1955 begann – wie noch zu zeigen sein wird - nach kleinen Anfängen ein neues maurerisches Leben ganz im Sinn von Maria Deraismes – Männer und Frauen gleichberechtigt, auf Augenhöhe und ganz im Sinn freimaurerischer Symbolik auf der Wasserwaage.

Der Katastrophe der NS-Jahre für Österreich sollten nach 1945 noch bittere Jahre folgen: Österreich war wohl wieder auferstanden - es war auch Grund zur Hoffnung auf eine freie Gesellschaft und auf einen demokratischen Staat gegeben. Ein großer Teil der Menschen war davon überzeugt, die dunklen Zeiten der Nazi-Diktatur – Holocaust und Krieg - hinter sich lassen und ein neues Leben zu beginnen zu können.

Und dennoch: Schon die äußerlichen Umstände – Bombenschäden, der Zusammenbruch der wirtschaftlichen Grundlagen, Entzug wichtigen intellektuellen Potenzials durch Ermordung und Emigration - boten ein schier hoffnungsloses Bild. Die Sorge um das nackte Überleben überdeckte alles. Es schien, dass Not und Hunger imstande waren, jegliche ethischen und moralischen Werte aufzuheben.

Vor diesem Hintergrund ist es umso unfassbarer, dass sich unter den Trümmern dennoch ein unbeugsamer Zukunftsglaube regen konnte. Er machte es möglich, Kräfte zu sammeln und ein neues Österreich zu schaffen. Zunächst galt es Zerstörtes – Dach über dem Kopf, Versorgung mit Nahrung, Infrastruktur, wirtschaftliche Produktion - wiederherzustellen. War es nach dem Ersten Weltkrieg die völlige Zerstörung der wirtschaftlichen, sozialen und administrativen Strukturen – der Übergang eines feudalen Regimes in ein egalitäres republikanisch-demokratisches System mit all seinen schmerzhaften Begleiterscheinungen - so kamen nunmehr im wahrsten Sinn des Wortes die Trümmer eines Bombenkrieges hinzu. Es ist wohl nur zu verständlich, dass jetzt der Fokus auf der Wiederherstellung der materiellen Grundlagen lag. Es ist nun einmal bittere Realität, dass die Sorge um die Grundbedürfnisse vieles überdeckt, was ebenso im Argen liegt.

Überdeckt und unterlassen wurde in dieser Zeit die Aufarbeitung des NS-Regimes. Die Gründe dafür sind vielfältig: Verdrängung und Scham ebenso wie die Priorität des Überlebenskampfes. Erleichtert wurde diese Strategie des Entkommens durch das, was man in Österreich die „Opfertheorie“ nennt: Österreich kann als erstes Opfer des Nationalsozialistischen Wahnsinns doch nicht zu den Schuldigen gezählt werden!? Unbestritten bleibt, dass 1938 die deutschen Truppen gewaltsam einmarschierten und dass Gegenwehr gegen diese Übermacht letztlich nur Blutvergießen bedeutet hätte. Wahr ist aber auch, dass in der Folge Österreich und die Österreicher das NS-Regime in vorauseilendem Gehorsam tatkräftigst unterstützt haben. Das Gift der Ideologie hat sie nur zu leicht davon enthoben, die Gründe für die Widrigkeiten des Lebens bei sich selbst oder im österreichischen Staatsversagen der Dollfuß-Diktatur 1934-1938 zu sehen .

Der Schock über die NS-Gräueltaten saß 1945 wohl tief. In der ersten Zeit wurden auch Konsequenzen gezogen und über Täter durch österreichische Gerichte empfindliche Strafen verhängt, bis hin zu Todesurteilen. Ab 1949 setzte jedoch ein lockerer Umgang mit den Schuldigen ein: Mit Billigung der Besatzungsmächte sollte ehemaligen Nazis das zuvor entzogene Wahlrecht wieder verliehen werden. Die politischen Parteien buhlten nun um diese Wählerstimmen, selbst um den Preis, dass so mancher Ehemaliger wieder zu bürgerlichen Ehren kam, und zwar in allen politischen Lagern.

In die Richtung des Opfermythos stößt auch die Moskauer Deklaration 1943 der Alliierten: Österreich sei das erste Opfer der deutschen Angriffspolitik gewesen, der Anschluss an das Deutsche Reich sei null und nichtig, es werde befreit und wiederhergestellt werden; Deutschland hingegen habe zu kapitulieren – eine willkommene Basis, sich der Vergangenheit zu entziehen.

Die Gründung der Zweiten Republik Österreich verlief formal unspektakulärer als 1918, wenngleich auch diesmal Zufall und glückliche Umstände Pate standen. Im März 1945 betrat die Rote Armee österreichischen Boden. Bemerkenswert ist, dass kein neuer Staat gegründet wurde, denn alle politischen Kräfte bekannten sich mit den Besatzungsmächten ausdrücklich zur Wiederherstellung der demokratischen Republik und damit des seinerzeitigen Österreich im Geiste der Verfassung von 1920. Die Diktatur des Ständestaates nach 1933 und der „Anschluss“ 1938 waren damit formal samt ihren Ideologien beseitigt, auch im Sinn der Moskauer Deklaration. Bewusst sollten damit die Eigenstaatlichkeit und die Selbstverantwortung Österreichs wiederhergestellt und die ideologischen Gräben zwischen den Parteien überwunden werden, was auch gelang - keine Selbstverständlichkeit unter diesen Rahmenbedingungen!

Die Eigenständigkeit Österreichs war jedoch empfindlich begrenzt: Es stand unter der Besatzung der vier Alliierten, welche die Oberhoheit über Gesetzgebung und Verwaltung bis um Staatsvertrag 1955 mit unterschiedlicher Intensität ausübten. Besonders schmerzlich war die Teilung des Landes in vier Besatzungszonen mit durchaus spürbaren Grenzziehungen und unterschiedlicher Eingriffsintensität in das soziale und wirtschaftliche Leben.

Die Nachkriegsjahre

Warum diese Darstellung des politischen Hintergrunds der Nachkriegsjahre? Es sollen die Rahmenbedingungen deutlich gemacht werden, die sich einem potenziellen Zusammenschluss von Menschen in freimaurerischem Sinne stellten: Die Gesellschaft war durch Krieg und Diktatur desorientiert und in ihren Grundfesten schwer erschüttert. Kontrolle durch staatliche Stellen war nach wie vor präsent, zudem stand alles noch unter dem Damoklesschwert alliierter Machtausübung – keine befriedigende Situation angesichts derer heterogenen Staatsauffassungen: Hie das liberale Amerika, dort die stalinistische Sowjetunion. Wenngleich sich Österreich zwangsläufig mit den Besatzungsmächten arrangieren musste, war doch die Orientierung nach dem demokratischen Westen und die Ablehnung des Kommunismus in der Bevölkerung eine Selbstverständlichkeit. Der Kalte Krieg tat sein Übriges.

Bemerkenswert ist der rasche Fortschritt des Wiederaufbaus und die schnelle Erholung der Wirtschaft – das zum Unterschied zu den Jahren nach dem ersten Weltkrieg, wo Inflation und Wirtschaftskrise zu Armut und Niedergang führten. Wohlstand begann sich schon in den frühen 50-er Jahren abzuzeichnen – in Deutschland nannte man es „Wirtschaftswunder“; Ähnliches kann man auch für Österreich sagen, wenngleich mit einer gewissen Verzögerung.

Die Basis für diese Entwicklungen war nicht zuletzt auch die gemeinsame Auffassung der maßgeblichen politischen Kräfte, dass auch bei unterschiedlichen Interessenlagen konsensuale Lösungen anzustreben und Konflikte zu vermeiden seien. Das damals konstruierte österreichische Modell der Sozialpartnerschaft wird auch noch heute als beispielgebend angesehen. Es liegt auf der Hand, dass die schwere Zeit der Besatzung nur mit diesem Willen zur inneren Einigkeit überstanden werden konnte.

Diese positiven äußeren Umstände dürfen nicht darüber hinwegtäuschen, dass Österreich in diesen Jahren sozial und intellektuell im konservativen Denken der Vorkriegsjahre stecken geblieben war. Fortschritt war weder im Kultur- und Bildungsbereich noch in den Medien ein großes Thema. Damit war auch die Auseinandersetzung mit dem NS-Regime, insbesondere mit der Rolle Österreichs, ein Tabu, das erst gebrochen wurde, als 1986 fast unter Schock manifest wurde, dass Österreich mit Kurt Waldheim einen Präsidenten gewählt hatte, der dunkle Punkte seiner eigenen NS-Vergangenheit zu verschweigen wusste.

1955 – das Wiedererstehen des Droit Humain

Das Wiedererrichten der Säulen des Droit Humain im Jahr 1955 ging nicht zufällig einher mit der endgültigen Befreiung Österreichs von den Besatzungsmächten durch den Staatsvertrag 1955.

Nach 1955 fanden sich zur Logengründung keine Brüder und Schwestern mehr aus der Zeit vor 1938 zusammen. Lediglich Mary Dickenson-Auner hatte die Kraft zum Neuanfang – sie war vom Meister vom Stuhl der Frankfurter Loge Goethe, der ältesten deutschen DH-Loge, zum Wiederaufbau des Droit Humain in Österreich ermutigt worden. In der Folge stießen völlig neue Kreise dazu. Die Loge Harmonie entstand mit neun neuen Mitgliedern, die – um arbeiten zu können - innerhalb von drei Tagen in den Meistergrad erhoben wurden.

Fritz Engel und seiner Frau Anni war es wegen ihres hohen Alters verwehrt, aus London die Reise zur Lichteinbingung im österreichischen Droit Humain zu unternehmen. Ihnen war es 1938 gelungen, aus Österreich zu fliehen und sich in Bournemouth in England eine Existenz aufbauen sowie einer englischen Loge beizutreten.

Die Gründung der österreichischen Logen stand unter der Schirmherrschaft der niederländischen Föderation. An Eigenständigkeit war noch lange nicht zu denken. In Deutschland war es schon 1947 zu Neu- und Wiedergründungen von Logen gekommen. Sie unterstanden allerdings wie auch die österreichischen Logen der niederländischen Föderation. 1957 wurde vom Obersten Rat die Gründung einer deutsch-österreichischen Jurisdiktion bewilligt.

Die Schwierigkeit, ausreichend materielle Grundlagen für die maurerische Arbeit zu schaffen, war in den ersten Jahren eine schwere Belastung. Man musste mit Unterschlupf und Untermiete an wechselnden Standorten Vorlieb nehmen, bis hin zu rituellen Arbeiten in privaten Wohnungen.

Die erste Zeit war noch mit einem weiteren Erbe der früheren Zeit belastet: Der deutliche Einfluss der Theosophie war schwer mit den aufklärerischen Grundlagen des französischen Droit Humain in Einklang zu bringen. Die theosophische Richtung kam von den Niederlanden und von England. Es bedurfte einigen Geschicks hier eine Spaltung der ohnehin noch nicht gefestigten Gemeinschaft zu verhindern. Die pragmatische, aber langfristig doch nicht tragfähige Lösung bestand darin, dass sich in der Loge Harmonie die Theosophen fanden und in der Loge Vertrauen die Aufklärer.

Die Ausrichtung der Logenarbeit war auch von einer inhaltlichen Unsicherheit geprägt: Die Baustücke fokussierten sich auf die maurerische Symbolik, auf das Ritual und auf transzendentale, um nicht zu sagen esoterische, Themen. Die schwerpunktmäßige Formulierung philosophischer Standpunkte und gesellschaftspolitischer Werte blieb der Zeit nach der Unabhängigkeit des österreichischen Droit Humain vorbehalten.

Die Jahre des Aufschwungs

Der Durchbruch und die inhaltliche Festigung kam in den späten1960-er und in den 1970-er Jahren: Mit der Theosophie wurde aufgeräumt und der Droit Humain in die aufklärerische Richtung zurückgeführt. Rituale mit theosophischen Bezügen wurden aus dem Gebrauch entfernt und statt dessen im Einverständnis mit dem Obersten Rat in Paris der Allgemeine Angenommene Schottische Ritus (AASR) in allen Logen eingeführt. Den Intentionen von Georges Martin und Maria Deraismes folgend wurde der Schwerpunkt wieder auf das laizistische Element gelegt: Die Logen berufen sich auf den „Fortschritt der Menschheit“. Auf dem Altar liegt ein Buch mit leeren Seiten, zu füllen mit der jeweiligen persönlichen Haltung zum Göttlichen, zum Agnostischen oder zum Freidenkertum, bis hin zum Atheismus.

Die Gründe für diese Konsolidierung mögen vielschichtig gewesen sein, sie reichen von einer Konzentration im Inneren auf das Wesentliche bis zum langsamen Entstehen neuer progressiver Strömungen im profanen Österreich.

Ein großer Gewinn war die Affiliation (= Logenwechsel) von Hermi Fröhlich, die lange Jahre mit ihrem Mann, einem Bruder der männlichen Kette, beruflich in Brüssel tätig gewesen war und nunmehr mit ihm nach Wien zurück übersiedelte. Sie brachte nicht nur ihre Erfahrung aus dem belgischen Droit Humain mit, sondern sie konnte fortschrittlich gesinnte Menschen für einen Beitritt gewinnen. Sie hat ihre Rolle als oberste Instanz im DHÖ in dieser Weise voll wahrgenommen. Ihr zur Seite standen engagierte Mitglieder, die viele neue Suchende anzogen.

Im profanen Leben bedeutete diese Zeit eine gewisse Aufbruchsstimmung. 1968 war auch an Österreich nicht spurlos vorbeigegangen: Die Wirtschaft boomte, die unmittelbaren Sorgen um die Bewältigung des täglichen Lebens hatten bei der Mehrheit der Menschen ein Ende genommen. Autoritäre und antidemokratischen Strukturen wurden von einer selbstbewussten Jugend in Frage gestellt. Die 70-er Jahre – es war die Zeit Bruno Kreiskys - brachten eine Fülle von längst überfälligen Reformen: Strafrecht, Familienrecht, Wirtschaft, Bildung und auch die öffentliche Administration wurden von überholten konservativen Hemmschuhen befreit. Auch die nach wie vor überdeckten und lebendigen Reste der NS- und rechtslastigen Ideologie wurden aufgezeigt und bekämpft. Man kann hier vom Beginn des Weges Österreichs zu einem modernen demokratischen und weltoffenen Staat sprechen.

Diese Neuorientierung fand auch ihren Niederschlag in der weiteren Entwicklung des Droit Humain. Eine Reihe von im profanen Leben in diversen Berufen und Positionen sehr engagierten Frauen fand den Weg zur Freimaurerei. Im Sinne der Tradition der österreichischen Freimaurerei aus den Zeiten der Verfolgung, sollen hier keine Namen genannt, aber doch auf diese glückliche Koinzidenz hingewiesen werden: Namhafte Frauen aus dem Bereich der Politik, der Wissenschaft, der Kunst und Kultur, der Medien, des öffentlichen Dienstes und der freien Berufe, wie auch eine als Olympiasiegerin bekannte Sportlerin oder eine Vizebürgermeisterin und eine Stadträtin Wiens oder hohe Frauenfunktionärinnen politischer Parteien bereicherten das Logenleben - um nur einige Beispiele zu nennen.

Der intellektuelle Anspruch an die Baustücke erreichte hohes Niveau; die Inhalte waren auch deutlich vom progressiven Element getragen. Philosophische und gesellschaftspolitische Themen wurden nicht ausgespart. Unter Wahrung der Deckung nahmen manche Logen auch an öffentlichen Demonstrationen, insbesondere für Menschenrechte und gegen Rassismus, Ausländerfeindlichkeit, Antisemitismus oder gegen sonstige Erscheinungsformen des rechtslastigen Spektrums teil.

Beispielhaft soll hier auch die Loge Helios herangezogen werden: Ihre Gründung 2004 fiel in die Zeit der Osterweiterung der Europäischen Union. Die neuen Staaten waren bis 1990 durch den Eisernen Vorhang von Westeuropa abgeschnitten, ein Trauma, das Österreich aufgrund seiner Grenzlage damals noch höchst gegenwärtig war. In der Loge Helios fanden sich zu einem großen Teil Schwestern, die diese Länder als Regimegegnerinnen verlassen hatten, insbesondere 1956 Ungarn, aber auch Bulgarien, die Slowakei, Polen oder das ehemalige Jugoslawien. Fast euphorisch begrüßten sie nun die Freiheit des Grenzübertritts. Das Schwerpunktthema einer Welt der offenen Grenzen und der Völkerverständigung wurde ab jetzt nicht nur diskutiert, sondern gelebt – enge persönliche Verbindungen zu Logen in diesen Ländern werden bis heute intensiv gepflegt.

Die Mitgliederzahlen wuchsen weiter an, und so konnte sich der DHÖ innerhalb des internationalen Droit Humain schließlich seine formale Selbständigkeit erreichen: 1990 durch die Gründung einer eigenen Jurisdiktion und 1993 einer Föderation. Erst jetzt konnte sich Österreich durch die Entsendung von Delegierten nach Paris in den Obersten Rat einbringen. Besondere Verdienste kommen hier den uns in den Ewigen Osten vorangegangenen (= verstorbenen) Schwestern Hermine Fröhlich und Marianne Bargil zu.

In den Jahren nach der Jahrtausendwende sind die Wiener und auch die Logen in den Bundesländern stark gewachsen. Heute präsentiert sich die Österreichische Föderation mit über 600 Mitgliedern gefestigt und als drittgrößte des Droit Humain weltweit; innerhalb Österreichs ist sie die größte Männern und Frauen offen stehende maurerische Obödienz.

Gegenwart und Zukunft

Historische Reminiszenzen mögen Zusammenhänge erklären, zum Verständnis unserer Prinzipien beitragen oder uns mit Genugtuung über das Erreichte erfüllen, sie bleiben aber ohne Konnex zu Gegenwart und Zukunft ohne Sinn. Aus der Geschichte lernen - ein abgegriffenes Wort, und dennoch: Die Pflicht des Freimaurers ist, sich den Problemen der Gegenwart zu stellen, und zwar im Geiste der Aufklärung und der maurerischen Werte Humanität und Toleranz, sei es im Sinne von Voltaires Gesellschaftskritik - sarkastisch-zynisch, aber treffend - oder von Rousseaus Visionen – abgehoben und idealistisch, jedoch von Humanität getragen.

Rousseau gab dem gesellschaftlichen Fortschritt und der Kultur die Hauptschuld an den sozialen Gegensätzen und am Elend der Menschheit und kam entsprechend zum Schluss „Zurück zur Natur“. Voltaire antwortete ironisch: „Man bekommt richtig Lust auf allen Vieren zu gehen.“ Beide Denker haben wesentlich die Entwicklung der Menschheit beeinflusst. Rousseaus Idee vom Contrat Social, der Verfassung für eine Gemeinschaft freier Menschen, hat den Weg zur Demokratie und Voltaire den zur modernen Wissenschaft gebahnt. Hier soll es jedoch kein Entweder-Oder geben - beide Wege sollen in richtigem Maß und Verhältnis zueinander finden, unter Berücksichtigung sozialer und wirtschaftlicher Aspekte. Unser Diskurs sollte somit weder dem Fehler der undifferenzierten Antiintellektualität Rousseaus noch dem der starren Rationalität Voltaires verfallen.

Wir legen hier unseren Logenarbeiten den Satz des großen deutschen Philosophen Immanuel Kant zugrunde: Sapere aude – habe Mut, dich deines Verstandes zu bedienen: Selbst durch kritisches Denken Stellung zu beziehen und ein Urteil zu finden! Sehr zu denken gab uns, der besonderen Aktualität wegen, seine Schrift „Vom ewigen Frieden“.

Die Probleme der Welt sind vielschichtig und von unterschiedlichen Interessenlagen getragen – was ist nun die größere Bedrohung, der Krieg oder die Zerstörung der Natur? Analytisch-rational die Fakten zu prüfen ist notwendige Voraussetzung, humanitäres Denken verlangt aber mehr.

Für uns Maurer kommt das unverrückbare Ziel der kompromisslosen Achtung der Menschenrechte hinzu, und zwar im Sinne der Teilhabe aller Menschen am Fortschritt und Wohlstand. Wie tragfähig ist ein Friede, der Menschleben wohl rettet, aber gewaltsamen Angriff duldet und damit neuerliches Morden rechtfertigt? Was nützt der Klimaschutz, wenn der soziale Aspekt vernachlässigt und die Last des schmerzlichen Verzichts rücksichtslos nur einem Teil der Menschen aufgebürdet wird?

Bewusst wählt Droit Humain Österreich die Akklamation „Liberté, Égalité, Fraternité“ – die zentralen Werte einer demokratischen, offenen und aufgeschlossenen Gesellschaft. Wir wissen aber wohl, dass diese Begriffe in einem Spannungsfeld zueinander stehen: Der Freiheit sind Grenzen durch die Beachtung der Gleichheit und der Brüderlichkeit, der Solidarität, gesetzt. Die Diskussion läuft in den Logen in diesem Sinne bereits sehr lebhaft und auf hohem Niveau. Der Blick in die Zukunft möge weiterhin von diesen Grundsätzen getragen sein!

So können wir das 100-Jahr-Jubiläum mit Genugtuung und mit Freude begehen.

Quellen und Literatur

  • Hermine Fröhlich, Die Freimaurerei und der Droit Humain, dies., Mary Dickenson-Auner, in: 75 Jahre Le Droit Humain in Österreich, Eigenpublikation des DH Österreich, Wien 1997
  • Susanne Balázs, Der Droit Humain Österreich in der Ersten Republik: 1918 bis 1938, Quatuor Coronati, Berichte 2016
  • Susanne Balazs, Der Droit Humain in Österreich: Entwicklung seit den 1920er-Jahren, Freimaurer Wiki, Masonic Encyclopedia.
  • Zirkel und Winkelmaß. 200 Jahre Große Landesloge der Freimaurer, Katalog zur Sonderausstellung des Historischen Museums der Stadt Wien 1985
  • Hoffnung, Vernichtung, Neubeginn, Festschrift – 100 Jahre Gründung der Großloge von Wien 1918-2018, Schriftenreihe der der Freimaurer-Akademie der Großloge Wien, Wien 2018.
  • Lisa Fischer, Frauen und die königliche Kunst, Quattuor Coronati Berichte, 2016.
  • Heinz Fischer (Hsg.), 100 Jahre Republik: Meilensteine und Wendepunkte in Österreich 1918–2018, Wien 2019.
  • Heinz Fischer, Gedanken zur Belastbarkeit unserer Demokratie, Linz 2021.
  • Marcus G. Patka, Österreichische Freimaurer im Nationalsozialismus, Wien-Köln-Weimar 2010
  • Walter Göhring, Brigitte Pellar, Ferdinand Hanusch, Wien 2003
  • Alexander Emanuely, Das Beispiel Colbert, Wien 2021.
  • Helmut Konrad, Gabriella Hauch, 100 Jahre Rotes Wien, Wien 2018
  • Rosemary Dinnage: Annie Besant, Harmondsworth 1986, 
  • Cecile Révauger, La longue marche des Franc-Maconnes, Paris 2018
  • Thomas Piketty, Eine kurze Geschichte der Gleichheit, München 2022.
  • Im Gedenken an lange Gespräche mit der verstorbenen Schwester Marianne Bargil und mit Dank an Susi Balázs für die umfassende fundierte Information über die Quellen zur Geschichte und über die Entwicklung des Droit Humain Österreich.
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Siehe auch

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