Hermann Hesse: Unterschied zwischen den Versionen

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*Traktat: Die Morgenlandfahrt von Hermann Hesse
 
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Version vom 13. Mai 2014, 23:39 Uhr


Stufen

(von Hermann Hesse)

Wie jede Blüte welkt
und jede Jugend dem Alter weicht,
blüht jede Lebensstufe,
blüht jede Weisheit auch und jede Tugend
zu Ihrer Zeit und darf nicht ewig dauern.
Es muss das Herz bei jedem Lebensrufe
bereit zum Abschied sein und Neubeginne,
um sich in Tapferkeit und ohne Trauern
in andr’e neue Bindungen zu geben.:
Und jedem Anfang wohnt ein Zauber inne,
der uns beschützt und der uns hilft zu leben.
Wir sollen heiter Raum um Raum durchschreiten,
an keinem wie an einer Heimat hängen,
der Weltgeist will nicht fesseln uns und engen,
er will uns Stuf’ um Stufe heben, weiten!
Kaum sind wir heimisch einem Lebenskreise
und traulich eingewohnt,
so droht Erschlaffen!
Nur wer bereit zu Aufbruch ist und Reise,
mag lähmender Gewohnheit sich entraffen.
Es wird vielleicht auch noch die Todesstunde
uns neuen Räumen jung entgegen senden:
Des Lebens Ruf an uns wird niemals enden.
Wohlan denn, Herz nimm Abschied und gesunde!


Siddharta

Passage aus Hermann Hesse’s Siddharta:

„Dass ich nichts von mir weiß, dass Siddhartha mir so fremd und unbekannt geblieben ist, das kommt aus einer Ursache, einer einzigen: ich hatte Angst vor mir, ich war auf der Flucht vor mir! Nun will ich mir den Siddhartha nicht mehr entschlüpfen lassen. Bei mir selbst will ich lernen, will ich Schüler sein. Will mich kennenlernen, das Geheimnis Siddhartha.“ „Er blickte um sich, als sähe er zum ersten Male die Welt. Schön war sie… nicht mehr sinnlose und zufällige Vielfalt der Erscheinungswelt… Sinn und Wesen waren nicht irgendwo hinter den Dingen, sie waren in ihnen, in allem… (und) er, der in der Tat wie ein Erwachter oder Neugeborener war, er musste sein Leben neu und völlig von vorne beginnen.“


Kommentar

Sind wir durch diese Zeilen nicht mitten in unser Thema gesetzt? Könnten diese Zeilen nicht auch von uns selbst sein?

„Dass ich nichts von mir weiß, dass Siddhartha mir so fremd und unbekannt geblieben ist…“ – Kennen wir uns denn tatsächlich selbst, meine Brüder? Kennen wir unser „vielgestaltiges Wesen, das immer das alte und immer wieder ein anderes, das so gut und so böse, so edelgeistig und so tierisch, so gebildet und so roh, so sehr auf das Ewige gerichtet und dem Augenblick unterworfen, das so glücklich und so unselig, mit wenigem befriedigt und voller Begier nach allem ist?“, wie der Anthropologe Ranke sagt.

Kennen wir es wirklich – unser Wesen? Wann haben wir das letzte Mal über uns nachgedacht, uns selbst gegenüber Rechenschaft abgelegt? „Das kommt aus einer Ursache“, fährt Hesse fort, „ich hatte Angst vor mir, ich war auf der Flucht vor mir!“ – Sind nicht viele von uns auf der Flucht vor sich selbst, meine Brüder? Und ich frage mich selber, bin ich nicht auch manchmal auf der Flucht vor mir selber? Das muss ich leider ab und zu mit ja beantworten. Einbezogen in die Notwendigkeiten eines hektischen Alltags, getrieben von beruflichen und gesellschaftlichen Zwängen lassen wir uns häufig mitreißen, werden mitgerissen in den Sog der Oberflächlichkeit, werden uns entfremdet, uns selbst fremd und manch einer wäre verblüfft über sich selbst – fände er die Zeit zur Besinnung.

Krankt möglicherweise an dieser Selbstentfremdung nicht unsere ganze Welt? Zeugt nicht vieles in dieser Welt – ob politisch, militärisch (gerade aktuell) und auch wirtschaftlich– zeugt nicht all das von einer entwurzelten Vernunft, von einer gottlosen Selbstherrlichkeit und Überheblichkeit? – Fanden vielleicht deshalb einige von uns den Weg zur Freimaurerei, zu den unverrückbaren, wegweisenden Symbolen unserer Lehre, weil sie sich nach ihrem Geheimnis sehnten und in einem neuen, bewussteren und beherrschteren Leben der Hast, Furcht, Verzweiflung oder Resignation entfliehen wollten?

„Nun will ich mir den Siddhartha nicht mehr entschlüpfen lassen. Bei mir selbst will ich lernen, will ich Schüller sein, will mich kennenlernen…“ – Das heißt doch, ich will mich nicht mehr treiben lassen, mich nicht mehr scheinbaren Notwendigkeiten beugen, mir nicht mehr ausweichen – den Lebenskampf oder irgendwelche Verpflichtungen vorschiebend, will mich mir selbst stellen, muss mich mir selbst stellen, um zu mir selbst zu finden, mich selbst kennen zu lernen.

Wie aber lernen wir uns kennen? Doch nur, in dem wir uns – wenigstens zeitweilig – auf uns selbst besinnen, uns zurückziehen in die Möglichkeit der Selbstfindung, „in uns gehen“ wie es poetisch heißt. Wir müssen uns selbst gegenüber Rechenschaft ablegen über unser Verhalten – im Beruf, in der Familie, in der Loge, im Umgang mit unserer Umwelt. Aufgrund unserer Erfahrungen mit uns selbst können wir uns z.B. die Fragen stellen: Stehe ich in meinem Job aufrecht wie ein freier Mann? Bin ich kollegial den anderen Mitarbeitern gegenüber? Oder bin ich zu ehrgeizig? Behandle ich meine Kollegen mit Toleranz? Bin ich immer aufrichtig? Zuverlässig? Und wie verhalte ich mich gegenüber meiner Familie? Gebe ich mir Mühe, sie zu verstehen, ihnen zu helfen oder bin ich egoistisch? Bin ich meinen Freunden ein wirklicher Freund? Meinen Brüdern ein guter Bruder? Welche Tugenden habe ich und welche Untugenden?

– Wir sollten uns also selbst beobachten. Voraussetzung: Ehrlichkeit mir selbst gegenüber. Wir dürfen uns nicht überlisten wollen, in dem wir unsere mehr oder weniger liebgewordenen Eigenwilligkeiten akzeptieren und die rauen widerborstigen Charakterzüge ignorieren. Wir sollten unsere Stärken, Schwächen und Fehler aus einem gewissen Abstand sehen lernen, sollten uns gewissermaßen von außen betrachten, sachlich, wertfrei, wie einen Fremden, kurz: zu möglichst objektiven Erkenntnissen zu kommen, ist das oberste Ziel. Dabei sollten wir die Äußerungen unserer Mitmenschen – vor allem der Brüder, Freunde und Angehörigen – in Betracht ziehen, denn sie sind ein wertvoller Hinweis. Wir müssen aber auch unsere Gedanken beachten, beobachten, registrieren, verraten sie uns doch verdrängte Wünsche, Überzeugungen und Eigenheiten.

„Die einzige Hölle, durch die wir alle gehen müssen, ist die Hölle der Selbsterkenntnis“, sagt die Schriftstellerin Lotte Ingrisch und deutet damit auf die Schwierigkeiten hin, die sich möglicherweise uns in den Weg stellen. Da können sich Abgründe auftun, die wir bisher mit dem Mantel der Eigenliebe verdeckten und die uns nun – bloßgelegt – irritieren und in Versuchung führen. Unbewusst können wir Kräfte mobilisieren, die uns – bei allen verstandesmäßigen Bemühungen um Objektivität – zu einer falschen Selbsteinschätzung bringen wollen. Aber nichts darf uns peinlich berühren. Und, .... hüten wir uns vor Selbsttäuschungen. Zu hohe Selbsteinschätzung führt mit Sicherheit früher oder später zu Ernüchterung, vielleicht sogar Enttäuschung und Verzweiflung, weil das Gebäude unserer Persönlichkeit dann eben nur eine Fassade ist, hinter die zu blicken keine große Anstrengung verlangt.

Objektive Selbsterkenntnis ist also von uns verlangt. Das Resultat muss nicht unbedingt ein guter Mensch sein, meine Brüder! Wir dürfen durchaus zu dem Ergebnis kommen, dass unsere Schwächen und Fehler überwiegen, vielleicht kommen wir sogar zu der Feststellung, dass wir mit dem was wir vorfinden nicht ganz so zufrieden sind! Insofern ist es möglich, dass wir – in dem wir uns selbst erkennen – in eine „Hölle“ blicken.

Aber was besagt das schon! Wir leben in einer Welt der Polarität, ja – unsere Welt kann überhaupt nur existieren durch die Polarität! „Die Erscheinungswelt bietet kein einziges Beispiel für ein Ding, für das es keinen Gegenpol gibt“, sagt der Astrologe Dethlefsen und führt fort: „Nicht einmal unser Denken ist in der Lage, sich etwas ohne Gegenpol vorzustellen. Der Spannungsbogen zweier gegensätzlicher Pole ist sogar die notwendige Voraussetzung dafür, dass etwas in unser Bewusstseinsfeld eindringen kann.“ Ein schwierigerer Charakter ist also durchaus normal in unserer Welt.

Der Mahnruf unseres Schutzpatrons setzt ja gewissermaßen voraus, dass wir keine vollkommenen, also nicht unbedingt nur gute Menschen sind, sonst wäre sein Ruf zur Umkehr gar nicht nötig gewesen! Dies soll uns aber nicht dazu verführen, zu sagen, na schön, es gibt Tag und Nacht, Mann und Frau, heiß – kalt, Ebbe und Flut, Gut und Böse – und ich gehöre eben zu den Bösen. Basta.

Wir alle haben uns der Freimaurerei angeschlossen mit der Verpflichtung „in Empfindungen und Gedanken rein, in Worten und Werken tugendhaft zu werden“. Also sind wir zur Umkehr aufgerufen, sie ist uns eine willkommene Pflicht, der wir uns gern annehmen.

Nur weil es das Böse gibt, können wir das Gute erkennen. Nur wenn wir das Böse kennen und es uns immer wieder vergegenwärtigt wird, können wir das Gute wollen und auf dem Weg zur Verwirklichung der Liebe voranschreiten.“ – Das ist der Sinn unserer Arbeit, dass wir Gut und Böse in uns erkennen, um dann über die Umkehr zur Selbstbeherrschung und schließlich zu möglichen Vollkommenheit zu gelangen. „Erkenne dich selbst“, wie über dem Eingang des Apollotempels in Delphi gestanden haben soll, ist nach Sokrates die „Vorbedingung der Sittlichkeit“ und nach Kant „aller menschlichen Weisheit Anfang“. Haben wir sie erreicht, werden wir nicht mehr „sinnlose und zufällige Vielfalt (in) der Erscheinungswelt sehen… (sondern) Sinn und Wesen in allem erkennen und wir werden wie „Erwachte“ oder „Neugeborene“ sein und unser Leben neu beginnen.

„Wenn einen Menschen die Natur erhoben
ist es kein Wunder, wenn ihm viel gelingt,
man muss in ihm die Macht des Schöpfers loben,
der schwachen Ton zu solchen Ehren bringt.
- Doch wenn ein Mann von allen Lebensproben,
die sauerste besteht, sich selbst bezwingt,
dann kann man ihn mit Freuden anderen zeigen
und sagen, das ist er, das ist sein eigen.
In diesem innern Sturm und äußern Streite
Vernimmt der Geist ein schwer verstandnes Wort:
Von der Gewalt, die alle Wesen bindet
Befreit der Mensch sich, der sich überwindet.“
(Goethe)


Uwe Dörger im April 2013

Siehe auch:

  • Traktat: Die Morgenlandfahrt von Hermann Hesse