Pinocchio, mein Bruder

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Traktat: Pinocchio, mein Bruder

Die Freimaurerische Initiation und die Fabel von Pinocchio

Im Original von: Giovanni Malevolti

Bearbeitung und Übersetzung: Frank Rasper


Quelle: Pietre-Stones Review of Freemasonry Pinocchio, mio fratello


Pinocchios Abenteuer

Ich habe die ersten elf Jahre meines Lebens in Pescia, einen Steinwurf entfernt von Collodi, verbracht, und kann deshalb sagen, dass ich die "Luft von Pinocchio" im wahrsten Sinne des Wortes "geschnuppert" habe. Nicht nur war Collodi das Ziel häufiger Spaziergänge, bei denen ich die Hügel durchquerte um nach einer Wegstunde auf der anderen Seite hinab zu steigen, auch "Pinocchios Abenteuer" wurden damals oft und gerne in den Grundschulen gelesen, noch bevor die Dichter des 17. Jahrhunderts oder diverse "anonyme chinesische Autoren" die Lesebücher und die Bücherregale der Klasse verseuchten.

Auch das Alltagsleben, und zwar nicht nur das, was mit der Schule zu tun hatte, machte aus dieser Figur ein immer gegenwärtiges Wesen: in den Ermahnungen der Eltern "wenn Du nicht lernst, bekommst du lange pelzige Ohren!", den Anweisungen einer besorgten Mutter "Schluck diese Medizin, sonst kommen die schwarzen Kaninchen und holen dich!" oder an den kalten dunklen Winterabenden "sei vorsichtig mit dem Kohlebecken, sonst verbrennst du dir die Füße wie Pinocchio !"

Die Jahre vergingen, ich verließ Pescia und zog nach Livorno,  Heizkörper ersetzten die Kohlebecken, man erfand Medizin, die nach Pflaumen und Kirschen schmeckte, und das einzige, was wuchs, wenn man nicht lernte, war die Anzahl der schlechten Noten auf dem Zeugnis. Aber Pinocchio, der alte Gefährte meiner Lausbubenstreiche, hatte mich nicht ganz verlassen. Zu lang war die Zeit gewesen, die er mit mir verbracht hatte, beim Steinewerfen im trockenen Flussbett, oder wenn es irgendeinen Weinberg zu "entlasten" galt oder wenn wir benommen und ohne ein einziges Geldstück in der Tasche vor einem Karussell standen und vom "Land der Wunder" träumten, wo die Bäume von Goldzechinen überquollen. Zu sehr war er ein Teil von mir geworden, als dass ich ihn hätte vergessen können, so wie ich ein Teil von ihm war. Leider brachten uns die Wechselfälle des Lebens jahrzehntelang auseinander, bis mir kürzlich ein Band von Giuseppe Prezzolini in die Hände geriet und ich las: "Pinocchio, das größte Meisterwerk der italienischen Literatur". Da kam mir die Erinnerung an meinen Marionetten-Freund und mit ihr auch der Wunsch, seine Abenteuer noch einmal zu lesen. Ich ging in eine Buchhandlung und kaufte eine klassische Ausgabe, die dem Buch aus meiner Kindheit ähnelte. Ich begann es zu lesen und schämte mich dessen fast; versteckte mich dabei vor den Blicken meiner Kinder und war tief im Innersten besorgt, dass ich diese leichte, flüchtige, alberne Lektüre vielleicht nicht beenden könnte.

...Aber es kam ganz anders, die Seiten flogen unter meinen Fingern und dann und wann hielt ich inne, um nachzudenken und etwas noch einmal zu lesen. Ich analysierte den Text aufmerksam, so als ob er jetzt etwas in einer neuen Sprache zu mir sagte, und mir Dinge enthüllte, die ich fast fünfzig Jahre davor noch nicht erfassen und verstehen konnte, und als ich schließlich bei der letzten Zeile angelangt war, habe ich das Buch geschlossen und bei mir gedacht : "Pinocchio, du bist mein Bruder".

Meiner Meinung nach gibt es zwei Arten "Pinocchios Abenteuer" zu verstehen.  Die erste können wir als "profane" bezeichnen , bei der der Leser (mit Sicherheit ein Kind) versucht, die misslichen Erfahrungen der hölzernen Marionette zu verstehen (denn als Abenteuer würde ich sie eher nicht bezeichnen wollen).

Die zweite Lesart ist eine freimaurerische, bei der ein deutlicher Symbolismus sich in die einfache lineare Erzählung der Ereignisse integriert, ohne diese zu ersetzen.


Carlos Collodi

Die Zugehörigkeit Carlo Collodis zur Freimaurerei wird allgemein anerkannt und es gibt viele Hinweise in diesem Sinn, wiewohl sie nirgendwo von offiziellen Dokumenten bestätigt wird. Aldo Mola, der, obwohl selbst kein Freimaurer,  als Geschichtschreiber der italienischen Freimaurerei bezeichnet wird, hält die Mitgliedschaft Collodis in der Masonischen Familie für gesichert. Einige biografische Fakten unterstützen diese These: die Gründung der liberalen Zeitschrift "Der Lampion" 1848, die, wie Lorenzini sagte "dem Licht spenden sollte, der in der Finsternis umherirre", dazu seine Teilnahme an den beiden Unabhängigkeitskriegen; unter den toskanischen Freiwilligen 1848 und als Freiwilliger im piemontesischen Heer 1859 und seine extreme ideologische Nähe zu Mazzini, aufgrund der er selbst sich als "feiger Mazzinianer" bezeichnete.

Aber was war nun die hauptsächliche Absicht von Collodi, wollte er eine Geschichte für Kinder oder einen masonischen Text schreiben?

Die Antwort darauf ist schwierig, besonders, wenn man bedenkt, dass die erste Fassung des Buches "Geschichte einer Marionette" im 15. Kapitel (später sind es 36) mit dem Tod von Pinocchio endet, der sich an einer großen Eiche erhängt. Hier können wir nicht von einer Geschichte für Kinder sprechen, denn sie ist weder unterhaltsam noch lehrreich und zudem extrem blutrünstig. Wir können in ihr aber auch nichts von masonischer Esoterik finden, denn es fehlt ihr eine zugrunde liegende philosophische Aussage. Vielleicht ist die Erklärung in den 20 Centesimi pro Zeile zu suchen, die der Autor vom Verleger erhielt. Aber im Jahr 1881 nimmt der Autor sich seinen alten Text noch einmal vor, überarbeitet und erweitert ihn und führt sein Werk in der Form, in der wir ihn heute kennen, zu einem Ende. Es muss folglich beim Autor ein Sinneswandel stattgefunden haben: aus einer sterilen, düsteren und hoffnungslosen kleinen Geschichte entstand eine, die im Laufe weniger Jahre zur bekanntesten Erzählung der Welt werden sollte.

Stellen wir uns also noch einmal die Frage: Schrieb er eine Geschichte für Kinder oder einen freimaurerischen Text ? Ich halte die erste der beiden Annahmen für wahr und natürlich, aber für genauso wahr halte ich, dass er einen Teil der Gesellschaft seiner Zeit beschreiben und kritisieren wollte, und zu guter Letzt ist auch der Umstand natürlich, dass er in die Erzählung dieser Geschichte die symbolischen und esoterischen kulturellen Elemente der Institution, der er angehörte, übertrug. Dabei gelang es ihm, beide in so tiefem Maße miteinander zu verschmelzen, dass sie nur für den zu erkennen sind, der wie der Autor eine Bildung erhalten hat, die es ihm ermöglicht, diese Dinge zu sehen und zu interpretieren. Im Verlauf der Jahre haben viele Kritiker der Erzählung eine religiös-katholische Interpretation angedeihen lassen, als Letzter in dieser Reihe der Kardinal Giacomo Biffi. Das erscheint mir jedoch nicht richtig, es sei denn, man verstünde unter Religiosität Konzepte und Werte wie Gutherzigkeit, Großmut, Verzeihung, Familie, die die Grundlage jeder zivilen Institution bilden.

Im Roman selbst erscheint keine einzige Figur, die mit der Welt der Religion verbunden wäre, und wir alle wissen, welche Bedeutung die Kirche in religiöser und politischer Hinsicht im 19. Jahrhundert innehatte und wie sehr sie versuchte, auf die Kultur und die nationale Bildung Einfluss zu nehmen. Es wäre völlig normal gewesen, dass in einer Geschichte, die als Protagonisten ein Marionetten-Kind vorsieht, das in einem kleinen Dorf auf dem Land lebt, auch die Figur eines Priesters vorkommen könnte, oder doch zumindest irgend ein Bezug zur religiösen Praxis genommen würde, aber ganz im Gegenteil: von Priestern, Kirchen, Heiligenbildern, Festen, Zeremonien und religiösen Handlungen nicht eine Spur, und ich würde sagen, dass dies absichtlich so gewollt ist, zudem Lorenzini, der einige Jahre bei den Scolopern studiert hatte, sicher nicht im Hinblick auf religiöse Zeremonien und Glaubensbezeugungen im Dunkeln tappte.

Eine genauen Analyse des Buches zeigt, dass es sich auf drei fundamentale Begriffen stützt: die FREIHEIT, weil Pinocchio ein freies Wesen ist, das die Freiheit liebt; die GLEICHHEIT, weil das einzige Bestreben Pinocchios darin besteht, den anderen zu gleichen, möglicherweise, weil keine Persönlichkeit eine andere in Bedeutung, Rang und sozialer Schicht übertreffen soll; und die BRÜDERLICHKEIT, weil diese die bedeutendste Empfindung ist, die die Handlung der Figuren in den verschiedenartigsten Situationen bestimmt.


Was sind nun "Die Abenteuer Pinochhios"?


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Wir öffnen das Buch und betreten einen Freimaurer-Tempel, einen Tempel, in dem die wichtigste Zeremonie des masonischen Lebens abgehalten wird: die Initiation, und zwar eine vollständige Initiation in allen drei Graden. Und wer wird dort initiiert ? Pinocchio vielleicht ? Nein ! ...aber wir wollen der Reihe nach vorgehen.

"Es war einmal..." - "ein König" - "nein,... ein Stück Holz!", aber vielleicht sollte man besser sagen: "am Anfang gab es einen Meister.", Mastro Antonio, genannt "Meister Kirsche", der sehr gut der verehrungswürdige Meister dieser imaginären Loge sein könnte. Mastro Antonio ist ein tüchtiger Tischler, der eines Tages ein Stück Holz in den Händen hält; wäre er ein Bildhauer gewesen, hätte er es sicherlich mit einem Stein zu tun gehabt. Tatsache ist, dass unser Meister aus diesem "Stein" etwas Gutes machen möchte, am besten etwas Nützliches wie ein Tischbein. Und so - sagt Collodi nahm er eine geschärfte Axt und begann, den Klotz zu behauen. Aber der tüchtige Tischlermeister bemerkt bald, dass diese Stück Holz, dieser einfache Stapelklotz, nicht etwa ein Luxusholz, in sich eine außergewöhnliche Eigenschaft birgt: er ist lebendig, demnach muss er also einen wichtigeren Zweck erfüllen als den, ein Tischbein zu werden oder möglicherweise sogar im Feuer zu landen.

An dem Punkt klopfte es an der Tür. "Ein Profaner klopft an die Tür des Tempels." Und schon tritt der Anklopfende Geppetto ein.

Gepetto ist ein verschrobener Alter, er braust leicht auf und ist dann nicht mehr zu bremsen, Toleranz ist nicht gerade seine Stärke, aber im Grunde genommen ist er ein guter Mensch. An wen besseres könnte der ehrwürdige Meister Antonio die Aufgabe abgeben, das Stück Holz zu beschlagen und daraus etwas Gutes herzustellen ? Und so kommt es, dass Gepetto sein grobes Holzstück mit nach Hause nimmt, oder wenn wir so wollen: seinen "rauen Stein". Er nimmt ihn in sein armseliges Haus, das - welch Zufall - einem "stillen Kämmerlein" sehr ähnlich ist: "...ein ebenerdiges Zimmerchen, das sein Licht von einem Fenster unter der Treppe bezog, ein schlechtes Schemelchen, ein kaputtes kleines Tischchen, ein Feuerchen, das zwar brennt, aber dessen Flammen nur gemalt sind, ebenso wie der Topf mit kochendem Wasser darauf und der Rauch, der aufsteigt." Hier fertigt Gepetto sein "Testament" an:

"Ich werde eine Marionette schnitzen, ich werde sie Pinocchio nennen, dieser Name wird ihr Glück bringen, ich kenne eine ganze Familie von Pinocchios, denen ging es allen gut, der Reichste von ihnen bettelte um Almosen."

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Nachdem er den Namen für seine Marionette gefunden hat, beginnt Geppetto zu arbeiten, auf eine schlichte Art und Weise, ausgerüstet mit einfachen Werkzeugen und dem guten Willen, inmitten vieler Zweifel und vieler Hoffnungen, und so gelingt es ihm nach verschiedenen Schwierigkeiten, das Holz zu schneiden und daraus eine Marionette zu schnitzen; eine Marionette, die zwar auf ihre Art perfekt ist, aber doch nur eine Holzfigur. So wird Pinocchio geboren, ein hölzerner Bursche mit guten Umgangsformen, aber mangelnder Charakterfestigkeit, der darum immer wieder durch die diversen Versuchungen des profanen Lebens vom rechten Weg abgeleitet wird.

Von diesem Moment an leben Geppetto und sein Geschöpf fast in einer Art Symbiose, der Handwerker identifiziert sich mit seinem Werk; sie beide erdulden die Leiden des jeweils anderen und erfreuen sich an des anderen Hoffnungen, begegnen den gleichen Widrigkeiten, wiewohl an unterschiedlichen Orten und auf verschiedene Weise.  Im VI. Kapitel, als Geppetto im Gefängnis sitzt, begegnet Pinocchio einem erbarmungslosen eisigen Wind, einem Wasserguss und dann einem Feuer, das ihm die Füße verbrennt: Luft, Wasser, Feuer... kann das alles ein Zufall sein ?

Nachdem Geppetto den rauen Stein behauen hat, ist er vom ersten zum zweiten Grad aufgestiegen. Er hat sicher schon Fortschritte gemacht, aber er ist noch weit entfernt von der idealerweise angestrebten Perfektion. Er ist nicht mehr der aufbrausende Kerl, als der er in den ersten Kapiteln beschrieben wurde, so wie auch die Marionette nach und nach die Mentaliät eines groben Holzstückes ablegt und bei ihr gelegentlich menschliche Geisteshaltungen aufblitzen. Mit neu geschnitzten Füßen, und nachdem er die Feuerprobe bestanden hat, fängt Pinocchio an, nachzudenken: "Ich verspreche Euch, Vater, dass ich zur Schule gehen werde, ich werde lernen und ich werde mir Ehre machen...ich werde ein Handwerk erlernen und so werde ich der Trost und der Stab Eures Alters sein."

Wie soll man solchen guten Aussichten nicht nachgeben ? Und so kommt es, dass Geppetto, der sehen möchte, wie sich sein Werk und damit auch er selbst verwirklicht, nicht einen Augenblick zögert, seine alte Jacke zu verkaufen um eine Fibel zu erstehen. Von diesem Augenblick an dreht sich alles um die Schule, die Bildung, die Reifung der Marionette bis zu ihrer vollkommenen Verwandlung. Aber wie viele Prüfungen, die alle auf der Dreiheit Luft-Wasser-Feuer basieren, muss er noch bestehen ? Er riskiert, auf dem Grill des Feuerfressers und im Feuer der Mörder (Katze und Fuchs) verbrannt zu werden, er schaukelt im stürmischen Nordwind, aufgehängt an der großen Eiche, er reist auf dem Rücken einer Taube durch die Luft, er springt ins Meer um zu seinem Vater zu gelangen, er wird in Gestalt eines Eselchens ins Meer geworfen, um dort zu ertrinken; und obgleich diese Prüfungen Folge eines Fehlverhalten darstellen, das durch die Versuchungen des profanen Lebens ausgelöst wurde, haben sie auch eine reinigende Funktion und er geht aus jeder einzelnen immer wieder stärker und besser hervor.

Und die Fee mit den blauen Haaren? Kann es sein, dass wir bis jetzt eine so wichtige Figur vergessen haben? Absolut nicht, denn auch wenn sie nicht namentlich erwähnt wurde, ist sie doch immer präsent gewesen; sie ist die Seele unserer Darstellung, sie ist die personifizierte Freimaurerei und der Ausdruck der Vernunft: ihre Eingriffe in das Geschehen wurden weder vom Glauben noch von der Hoffnung oder der Nächstenliebe angeregt. Sie sind geprägt von der Maxime des Rationalismus, einem in seiner Einfachheit erbitterten Rationalismus (s .Kap. XXV).


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In der Erzählung schreitet die Fee zum ersten Mal ein, als drei Schläge das Zeichen geben, um Pinocchio, der am Hals an der Großen Eiche aufgehängt ist, zu Hilfe zu eilen. Sie nimmt ihn in ihrem hell erleuchteten Haus voller Köstlichkeiten auf, aber zunächst benötigt sie die Bestätigung drei verschiedener Ärzte, dass er noch am Leben sei. Die Diagnosen fallen insgesamt positiv aus aber geben dennoch Anlass zu einiger Verwunderung, als dem Marionettenjungen bewusst wird, was es bedeutet, in diesem Hause weiterhin leben zu dürfen. Pinocchio erhält das „Zuckerchen“, aber kurz darauf muss er auch die "bittere Medizin" schlucken und etwas später sagt die Fee, die in diesem ersten Auftritt wie ein kleines Mädchen erscheint, zu Pinocchio: "Du wirst mein Brüderchen werden". Die Übereinstimmungen mit dem Ritual der Initiation sind so groß, dass es nicht denkbar ist, dass dieser Bezug von Collodi unbewusst und zufällig gemacht wurde.

Das zweite Mal als Pinocchio der Fee begegnet, ist sie kein Kind mehr, sondern schon zur Frau geworden und ihr gegenüber erwähnt Pinocchio zum ersten Mal seinen Wunsch, ein echter Junge, ein Mann zu werden. Die Fee stellt ihm zur Bedingung, dass er einige Prüfungen bestehen und vor allem zur Schule gehen und etwas lernen muss; Pinocchio verspricht, schwört und …wird eidbrüchig. Zunächst scheint das Verhalten der Marionette dem rechten Weg zu folgen, so dass die Fee eines schönen Tages ankündigt, er werde am folgenden Tag zu einem Junge aus Fleisch und Blut. Das Fest wird vorbereitet, Gäste werden geladen, aber ein weiteres Mal zieht fatalerweise das weltliche Leben Pinocchio in seinen Bann und bringt ihn ins Spielzeugland. Nach dieser beängstigenden Erfahrung beginnt die Erlösung und Pinocchio sieht die Fee mit den blauen Haaren ein drittes Mal nur noch indirekt in der Erscheinung einer Ziege, die ihm beisteht und die versucht, ihm zu helfen, als er von einem Wal verschluckt wird und sich damit auf den Weg zu seiner endgültigen Katharsis begibt.


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Als er in den Schlund des schreckenerregenden Fisches gleitet, beginnt Pinocchio den Übergang zum Dritten Grad, den Tod und schließlich die Wiedergeburt. "Pinocchio", so schreibt Collodi, "schlug so heftig auf, dass er für eine Viertelstunde völlig betäubt blieb." Als er wieder zu sich kommt, findet er sich in einer so tiefen Dunkelheit wieder, dass es ihm scheint, als sei er in ein Tintenfass gefallen. In diese absolute Dunkelheit getaucht und von der Angst gequält, dass ihn der Fisch "verdaut", erblickt Pinocchio endlich ein Leuchten, ein kleines Licht "vielleicht ein Leidensgenosse, der auch darauf wartet, verdaut zu werden." "Ich will zu ihm gehen. Könnte es nicht sein, dass es sich um irgendeinen alten Fisch handelt handelt, der mir vielleicht einen Fluchtweg zeigen kann?". Und so macht sich Pinocchio auf den Weg, den ihm das Lichtlein weist, und, so wörtlich, "je mehr er vorwärts schritt, um so heller und deutlicher wurde das Leuchten." Der Marionettenjunge gelangt endlich zur Quelle dieses Lichtes: es ist eine Kerze, die Geppetto angezündet hat, der jetzt als blasser kleiner Alter in erbärmlichem Zustand auftritt. Der Künstler und sein Werk sind wieder zusammen, vereint und bereit nun schließlich das Licht zu erblicken, das als Sternenhimmel und Mondschein sichtbar wird. Geppetto wird von Pinocchio huckepack genommen und in Sicherheit gebracht, der Künstler kehrt mithilfe seines Werkes ins Leben zurück.

Jetzt ist der Marionettenjunge bereit zum Menschen zu werden, der raue Stein ist komplett behauen und nun fehlt nur noch der letzte Schliff. Pinocchio beginnt zu lernen und hart zu für seinen Vater zu arbeiten und schickt gleichzeitig die Früchte seiner Anstrengung an die Gute Fee, die ihn braucht, er verzichtet sogar, um ihr zu helfen, darauf sich einen neuen Anzug zu kaufen. Und dann kommt der entscheidende Augenblick: eines Morgens öffnet Pinocchio die Augen und bemerkt, dass er keine Marionette aus Holz mehr ist, sondern ein Junge, er befindet sich nicht mehr in einer kleinen Hütte mit Wänden aus Stroh, sondern sieht "ein schönes Zimmerchen, dass mit eleganter Einfachheit eingerichtet und ausgeschmückt ist"; er ist reich, denn die 40 Taler, die er der Fee geschickt hatte, sind in Form von 40 Goldstücken zurück gekehrt, das Metall wurde ihm zurückerstattet. Pinocchio läuft zu seinem armen Vater im Nebenzimmer und findet dort einen gesunden, rüstigen und gutgelaunten Geppetto vor. Und so ist die Erhebung zum Dritten Grad durchgeführt, die Initiation ist vollendet.


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Die Schluss-Szene findet im Tempel statt, wo der brave Geppetto auf einer Seite steht, und Pinocchio zufrieden betrachtet, der ein Mann geworden ist, also ein quaderförmiger geschliffener Stein. Auf der anderen Seite betrachtet ihn die alte Holzmarionette, angelehnt und verdreht, mit hängenden Armen und überkreuzten Beinen. Darin besteht die Originalität des Romans: Pinocchio hat keine Metamorphose erfahren, er hat sich nicht in einen Menschen verwandelt. Stattdessen ist ein neues Wesen entstanden und die Marionette ist da geblieben, fast so, als ob sie die Botschaft der Kontinuität bezeugen sollte.


Es ist der letzte Satz, den Collodi Pinocchio sagen lässt, in dem sich der Stolz zeigt und konzentriert, ein initiierter Freimaurer zu sein : "Was war ich doch komisch, als ich noch eine Marionette war. Und wie froh bin ich nun, ein richtiger Junge zu sein."