Rezension: "Das große Notzeichen" von Walter Plassmann

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Ein Freimaurer-Krimi – und mehr

von Walter Plassmann

Im Aufnahmeritual erhält der Bruder nach vollzogener Auf- und Annahme die ersten Unterweisungen, wie er sich im Kosmos der Freimaurerei bewegen soll. Er erhält seine Regalia, lernt Schritte, Griff, Wort und Paßwort kennen und dann erfährt er noch etwas recht Merkwürdiges: das „großen Notzeichen“. Der Meister erklärt: „Gerät ein Freimaurer in Lebensgefahr, so darf er das große Notzeichen geben. Auf dieses Zeichen hin ist jeder Bruder zur Hilfeleistung verpflichtet.“ Der Zeremonienmeister macht ihm dieses Zeichen dann vor: Die Finger werden ineinander verschränkt und in dieser Haltung werden sie nach oben über den Kopf gehoben. Ehrlicherweise beschlich mich schon häufiger die Frage, was wohl passierte, sollte ein Bruder dieses Zeichen in der Öffentlichkeit tatsächlich ausführen.

Würden ihm bis dato unbekannte Brüder zu Hilfe eilen? Wüssten sie noch, was diese merkwürdige Bewegung zu bedeuten hat? Wüsste der Betroffene noch, wie er das Zeichen auszuführen hat? Bislang habe ich jedenfalls keine Geschichte gehört, in der das Zeichen eine Rolle gespielt hätte.

Das hat Br. Jens Rusch nun geändert. In seinem zweiten Kriminalroman, den er dieses Mal mit dem erfahrenen Autor Manfred Eisner geschrieben hat, steht das große Notzeichen am Anfang einer mysteriösen Geschichte, die den Leser zu Höhen und Tiefen der Freimaurerei führen wird. Aus diesem Grund nannten die beiden ihr Werk auch ganz offen einen „Freimaurer-Krimi“.

Die Geschichte handelt von zwei Freimaurern, die auf den ersten Blick unabhängig voneinander in den Freitod gegangen sind. Beide wählten eine besonders grauenvolle Methode: sie stellten sich einem in voller Fahrt fahrenden Zug entgegen – mit dem großen Notzeichen.

Der ermittelnde Hauptkommissar heißt Sören Madsen, der ein – wie es sich heute gehört – sehr divers zusammengesetztes Team um sich hat und in Itzehoe stationiert ist. Madsen hat sofort das Gefühl, dass es sich nicht um einen freiwilligen Selbstmord handelt und stößt in der Tat auf immer mehr Dinge, die nicht zu einem Selbstmord passen. Er bemerkt aber auch, dass seine Ermittlungen in die Welt der Freimaurer führen, und da er sich darin nicht auskennt, zieht er einen Kollegen aus Hamburg bei, der als aktiver, erfahrener und bestens vernetzter Freimaurer viele der Spuren korrekt deuten und auch viele Türen zu wichtigen Informationen öffnen kann. Die beiden und ihr Team stellen in der Tat fest, dass die Brüder in ihren Freitod getrieben wurden durch Denunziationen, die in dieser Form nur mit Hilfe der heutigen „sozialen“ Medien möglich sind. Hintergrund sind Restitutionsansprüche für „Raubkunst“ der Nationalsozialisten, bei deren Durchsetzung die beiden Brüder behilflich waren.

Das alles kann berichtet werden, weil Br. Rusch und sein Kollege Eisner weniger einen fesselnden „whodunit“-Krimi im Sinn hatten, in dem der Leser permanent an der Nase herumgeführt wird und sich gedanklich eifrig an der Mördersuche beteiligt, sondern es ging ihnen erkennbar mehr darum, Inhalte zu vermitteln. Das erinnert zuweilen an den „Tatort“, der ja auch sehr häufig eine Krimihandlung vor allem dazu nutzt, didaktisch zu wirken.

Die Themen, die Br. Rusch und Eisner in die Kriminalhandlung verweben, reichen von den Verstrickungen eines Teils der Freimaurerei in den Nationalsozialismus über die Hintergründe der „Raubkunst“ (also der Beschlagnahmung umfangreicher Kunstsammlungen durch die Nazis, die bis heute nicht vollständig den rechtmäßigen Eigentümern zurückgegeben wurden) bis hin zu den Möglichkeiten und Gefahren eines entfesselten Internets und seines Bastards, den „sozialen“ Medien. Zudem werden auch immer wieder die elektronischen Möglichkeiten ausleuchtet, die den Polizei-Ermittlern heutzutage zur Verfügung stehen – mit großer Sachkenntnis und in einer Mischung aus Bewunderung und Beängstigung.

Wer so viele Geschichten und Informationen in einem Krimi unterbringen will, hat die große Schwierigkeit zu bewältigen, auf der einen Seite alle Informationen möglichst akkurat weiterzugeben, auf der anderen Seite aber das Fiktionale, die Geschichte nicht darunter leiden zu lassen. Diese benötigt zudem Protagonisten, die lebendig gezeichnet werden und eine „Seele“ haben.

Br. Jens war in der Tat vor dieser Herausforderung erst einmal gescheitert. Er habe, so erzählte er der shz-Zeitungsgruppe, die eine Vielzahl von Lokalzeitungen in Schleswig-Holstein herausgibt, nach jahrelangen Recherchen zu diesen Themen bemerkt, dass er sie nicht in ein spannendes Buch gepackt bekommen habe. Den Figuren habe die Seele, das Lebendige, gefehlt.

Da kann der Kontakt zu Manfred Eisner gerade recht. Eisner hat nach seiner Berufstätigkeit angefangen, Regional-Krimis zu schreiben. Sie spielen in Schleswig-Holstein und haben die LKA-Sonderermittlerin Nihil Masal zum Protagonisten. Auch Eisner geht es in seinen Krimis weniger um Suspense und Horror, sondern um Inhalt. So greift sein jüngster, neunter Roman „Makabrer Augustfund im Watt“ das Thema Pädophilie auf. Und er verwob die „Wattolümpiade“ in seinen Roman. Diese wohl ungewöhnlichste Sportveranstaltung der Welt hat Br. Jens 2004 erfunden. Die Männer und Frauen messen sich im Aalstaffellauf, Wattfußball, Watthandball, Euterball, Wattskilanglauf, Schlickschlittenrennen oder Tour de Watt – dies alles aber tatsächlich im knietiefen Schlamm, was nicht nur das Bewegen äußerst erschwert, sondern auch im Nu für sehr merkwürdig aussehende Gestalten sorgt. Mit seiner „Wattolümpiade“ zieht Br. Jens immer zahlreiche Besucher und Medien an, deren Geldspenden in seine Stiftung „Stark gegen Krebs“ fließen.

Aus der Begegnung von Br. Jens und Eisner entstand die Idee, den erfahrenen Krimi-Autor mit der Aufgabe zu betreuen, für Seele und Lebendigkeit zu sorgen – und so entstand „Das große Notzeichen“, Br. Jens‘ zweite Co-Autorenschaft nach dem 2017 erschienenen Krimi „Im Schatten der Loge“. Co-Autor dieses Romans ist Hannes Nygaard. Auch Nygaard hat sich auf Regionalkrimis spezialisiert. Sie spielen in Husum und haben die Kommissare Mats Skov Cornilsen und Harm Mommsen sowie den Kieler Lüder Lüders als Protagonisten. Das Buch von Br. Jens und Manfred Eisner ist also auf einem wahren Biotop norddeutscher Regional-Krimis gewachsen. Und so findet man dort alle Zutaten, die die Krimis abseits der großen Metropolen so erfolgreich gemacht haben: liebevolle Schilderung des ländlichen Lebens, knorrige Charaktere, trockenen Humor und auch viele Orte und Begebenheiten, die ein dèjà-vu beim Leser hervorrufen.

So ist es Br. Jens sogar gelungen, seine Geschichte um die Wieder-Erschaffung der Statue von Br. Friedrich Ludwig Schröder in der Handlung unterzubringen. Die Statue des Erneuerers der Freimaurerei hatte im alten Logenhaus an der Welckerstraße im großen Tempel (der viel größer und prächtiger war als unser heutiger großer Tempel) in einer Nische im Osten hinter dem Meister gestanden. Die Nazis hatten sie zerstört, als sie das Logenhaus abrissen. Br. Jens glaubte, von einer Loge in Hamburg den Auftrag erhalten zu haben, die Statue wieder erschaffen zu sollen, damit sie im Logenhaus wieder aufgestellt werden könnte – nicht im Tempel, aber im Goethesaal.

Br. Jens trug in einer sehr aufwendigen Arbeit alle Informationen über die Statue zusammen und schöpfte diese praktisch nach, denn eine detailgenaue Fotografie oder ähnliches von ihr gibt es nicht. Als er fertig war, leugnete die – unter neuer Führung arbeitende – Loge, ihm einen Auftrag gegeben zu haben. Auch hatte es keine Gespräche mit den anderen Logen gegeben, ob sie mit der Umgestaltung des Goethesaals einverstanden wären. Nach einigen emotionalen Wochen war der Beweis erbracht, dass in diesem Fall die freimaurerische Konfliktbewältigung nicht funktioniert hat. Br. Jens blieb auf seinen immensen Kosten und der Statue sitzen, und so einige freimaurerischen Bande wurden irreparabel beschädigt.

Nicht nur in diesem Punkt äußern Br. Jens und Eisner in ihrem Buch einen klaren Standpunkt. Sie sind nicht die objektiven Beobachter und kühlen Erzähler, sondern sie können sich aufrichtig empören über so manches, was unter den freimaurerischen Teppich gekehrt werden soll. Auf der anderen Seite wird die Freimaurerei mitunter derart idealisiert erzählt, dass man sich innerlich beschämt eingestehen muss, dass es bei einem selbst und in der eigenen Loge so nobel eigentlich nicht zugeht.

Das Buch ist geschrieben für Freimaurer wie für Profane. Wieder so eine Herausforderung. Denn natürlich muss dem unbefangenen Leser viel erklärt werden, das dem Bruder geläufig ist. Dabei darf der Profane nicht überfordert und der Bruder nicht gelangweilt werden. Die beiden Autoren haben versucht, diesen Spagat dadurch zu meistern, dass sie ihre Erzählstücke nie zu lange werden lassen, sondern die Informationen auf viele unterschiedliche Szenen aufteilen. So ergibt sich im Laufe des Buches ein vollständiges Puzzle. Der Profane hat viel über Freimaurerei gelernt – und der Bruder das eine oder andere Ziel vor die Nase gehalten bekommen. Natürlich ist dies keine hochstehende Literatur. Die Figuren reden mitunter etwas hölzern – was besagter Wissensvermittlung geschuldet ist. Die Zeichnungen ihrer Charaktere hätten durchaus etwas mehr Farbe vertragen können. Und ganz allgemein stellt sich die Frage, ob die reichhaltige Faktenfülle nicht besser auf zwei Bücher und Erzählungen hätte aufgeteilt werden sollen. Aber was soll‘s - das Buch macht Spaß und erfüllt seinen Zweck – für Profane wie für Freimaurer.

Die Anliegen von Br. Jens sind allesamt wichtig. So gibt es zwar mittlerweile ausreichend Literatur über die nicht sonderlich ruhmreiche Rolle vieler Freimaurer und ihrer Logen im Zusammenhang mit der Machtergreifung durch die Nationalsozialisten und der damit beginnenden Judenverfolgung. Aber im kollektiven Bewusstsein der Freimaurer so richtig angekommen ist das nicht. Erinnert sei nur daran, dass Br. Hans Herrmann Höhmann vor einigen Jahren via Großloge allen Logen anbot, über dieses Thema einen Abend zu gestalten – und die Brückenbauer bundesweit die einzige Loge war, die dieses Angebot angenommen hatte. Auch ist das Thema der „Beutekunst“ – nicht nur aus der Nazizeit, sondern auch aus anderen Kriegen und „Raubzügen“ – noch immer nicht wirklich aufbereitet. In nahezu allen Museen und einer ungezählten Zahl von Privathäusern und –wohnungen werden Kunstwerke präsentiert, die den rechtmäßigen Eigentümern gestohlen worden waren – seien es Privatpersonen gewesen oder ganze Völker. Nur vereinzelt und zögerlich wird versucht, diese Ungerechtigkeiten gerade zu rücken.

Schließlich ist es selbst für leidlich informierte Leser erschreckend, über welche elektronische Methoden die Polizei offenbar mittlerweile verfügt, um ihre Ermittlungen zu betreiben. Dies ist deshalb erschreckend, weil diese Methoden ja nicht der Polizei vorbehalten sind, sondern wohl mehr oder minder offen erworben und für ganz anderes Zwecke eingesetzt werden können. Nach der Lektüre dieser Szenen beschleicht einen das Gefühl, dass wir noch viel größere Anstrengungen unternehmen müssen, wenn wir nicht in diesem virtuellen Laokoon ersticken wollen.

Br. Jens ist dafür bekannt, dass er seine Ziele mit großer Intensität und Nachhaltigkeit verfolgt. Die Themen, die er mit seinem Co-Autor angesprochen hat, werden uns noch sehr lange beschäftigen. Insofern ist es keineswegs ausgeschlossen, dass Hauptkommissar Sören Madsen noch einmal reaktiviert wird. Außerdem, so sagt er, habe ihm die Arbeit an dem Buch Spaß gemacht. Das gilt auch fürs Lesen.

Walter Plassmann

MvSt. Die Brückenbauer


„Das große Notzeichen“ ist als Taschenbuch im Engelsdorfer Verlag erschienen und kostet 18 Euro (ISBN 978-3-96940-268-9). Die Honorare spenden beide Autoren dem Verein „Stark gegen Krebs e.V.“. Der Freimaurer-Krimi ist auch als E-Book erhältlich. In diesem Brückenschlag sind die ersten beiden Kapitel abgedruckt

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