Rezension: Klaus-Jürgen Grün: Menschenähnlichkeit

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Rezension: Klaus-Jürgen Grün: Menschenähnlichkeit

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Christoph Meister


„Menschenähnlichkeit. Zum Unterschied zwischen humanitärer Freimaurerei und Religion“ ist ein anspruchsvolles Buch. Dies nicht nur deshalb, weil es einen sehr weiten philosophischen Horizont besitzt, sondern auch deshalb, weil der Autor, Klaus-Jürgen Grün, Meister der deutschen Forschungsloge Quatuor Coronati, wohl die meisten von uns mit hartnäckigem Zweifel und kritischem Denken in ihrem freimaurerischen Selbstverständnis herausfordert. Lassen wir uns auf Klaus-Jürgen Grüns Befragung und die sich daraus eröffnenden Einsichten aber mit wachem Bewusstsein ein, dann können wir, unabhängig davon, ob wir immer einverstanden sind, zu einem viel deutlicheren Bild der Freimaurerei gelangen, als wir es vorher wahrscheinlich besassen.

Das Buch, das ich in einigen, m.E. besonders wichtigen Aspekten im Folgenden vorstelle, sei deshalb wärmstens zur Lektüre empfohlen! Ins Visier genommen wird hauptsächlich das Verhältnis von Freimaurerei und Religion. Ausgangspunkt ist dabei eine pointiert der Aufklärung verpflichtete, von Klaus-Jürgen Grün als „humanitär“ bezeichnete Freimaurerei. Explizit „religiöse Freimaurerei“, die „ihren Erkenntnisanspruch auf eine Erkenntnis Gottes“ richtet, in der Loge „im Namen des christlichen Gottes Liturgie zelebriert und eine Verschmelzung mit Jesus heraufbeschwört“, kann vor dem Urteil der „humanitären Freimaurerei“ nicht bestehen. Aufklärung, nämlich, „warnt stets davor, die Inhalte unseres Bewusstseins immer und kritiklos für das hinzunehmen, wofür sie sich selbst ausgeben. Wenn wir in unserer Ideenwelt Engeln, Gott und dem sorgenfreien Paradies begegnen, so fordert Aufklärung dazu auf, diese und ähnliche Inhalte unseres Bewusstseins nicht wörtlich zu nehmen…“.

Gemäss Kant erliegen wir, wenn wir solche Inhalte wörtlich nehmen, einem „Religionswahn“, der darin besteht, „die Täuschung, die blosse Vorstellung einer Sache mit der Sache selbst für gleichbedeutend zu halten“(25). Mit Feuerbach ist „der gedachte Gott nichts anderes als der ins Übernatürliche gesteigerte Mensch“(85). Diese Projektion muss zurückgenommen und verkleinert werden, „damit der natürliche Mensch sich näher komme“(85).Sie stellt zudem einen „anmassenden Versuch“ dar, „über Gott Bescheid wissen zu wollen“(17). Für eine vom Denken der Aufklärung geprägte Freimaurerei, wie Klaus-Jürgen Grün sie in diesem Buch mit Entschiedenheit vertritt, kann Gott „nur im Sinne eines Postulats der Vernunft verstanden werden, keinesfalls als real existierende Wesenheit“(17).

Der Allmächtige Baumeister aller Welten ist eine „Metapher“; sie „beruht auf der Einsicht, dass jede explizite Aussage über ein solches Wesen, also auch, ob es existiere oder nicht, nicht mehr zum Bereich der Freimaurerei gehört“(17). Vor dem Hintergrund einer solchen Position ist es nun nicht mehr nur die „explizit religiöse Freimaurerei“, die ins Kreuzfeuer der Kritik gerät, sondern sind es auch diejenigen Freimaurer, die einen religiösen Glauben haben, ohne ihn für den einzig wahren zu halten, und für die sich im ABaW der Gott ihres Glaubens zeigt, ohne dass sie eine Tempelarbeit deswegen für einen Gottesdienst halten.

Aus der Sicht der hier vertretenen „humanitären Freimaurerei“ reicht deren Toleranz nicht aus; sie müsste sich vielmehr so weit erstrecken, dass im eben geschilderten Sinn gläubige Freimaurer, bevor sie den Tempel betreten, auch ihr persönliches Gottesverständnis hinter sich lassen, es also nicht mit dem ABaW des Freimaurerrituals identifizieren. Erst dann sind Freimaurerei und Religion wirklich voneinander getrennt, ist die Religion wirklich eine „Privatsache“ und als solche dann ausserhalb der Betrachtung und des Urteils der Freimaurerei. Sehr deutlich und sicher auch zu Recht weist Klaus-Jürgen Grün darauf hin, dass es heute unter den mit der Religion beschäftigten Freimaurern noch eine dritte Gruppe gibt, nämlich die, der ihre „Religion nicht mehr genügte und trotzdem nicht von ihr loskommt“(17).

Diese Gruppe wird möglicherweise eine ganz besonders diffuse und unbewusste Haltung der Religion gegenüber mitbringen und sieht sich deshalb durch dieses Buch auch entsprechend scharf in Frage gestellt. Interessanterweise wird eine vierte mögliche Haltung, die früher vielleicht selten, heute aber durchaus unter den Freimaurern zu finden ist, unter diesem Gesichtspunkt nicht erwähnt, nämlich die atheistische. Insofern auch sie sich eindeutig festlegt und damit einen ‚Glauben‘ vertritt, verfehlt auch sie dieses, was die Existenzfrage Gottes betrifft, „In-der-Schwebe-Halten“ und erträgt den, will man wirklich darauf verzichten, über Gott zu verfügen, notwendige Zweifeln auch nicht. Einen massiven Zweifel bringt Klaus-Jürgen Grün auch gegenüber in der Freimaurerei weithin anerkannten philosophischen Voraussetzungen der Ethik an, und dabei gerät nun auch das Denken der Aufklärung selbst in die Kritik. Es geht dabei um die z.B. bei Lessing vertretene Überzeugung und gleichzeitig Hoffnung, dass die Zeit komme, in der der Mensch das Gute um des Guten willen tun würde und um die damit verwandte Kantsche „Pflichtethik“. Wenn Kant der Meinung war, „es komme als ‚das wesentliche alles sittlichen Werts der Handlungen … darauf an, dass das moralische Gesetz unmittelbar den Willen bestimme‘“(11), kann man darin eine „Wiederkehr der alten jüdisch-christlichen Tradition“, den „Eintausch des göttlichen Verstandes durch die universelle transzendentale Vernunft“(113) sehen.

Wie Klaus-Jürgen Grün zeigt, ist eine solche ‚Gesinnungsethik‘ mit dem Schwerpunkt auf dem guten Willen der freimaurerischen, auf die Praxis ausgerichteten Haltung eigentlich fremd. Die Freimaurerei leitet keine ethischen Ansprüche aus „einer Analyse der Vernunft“ ab, „nicht Vernunfteinsicht, sondern das Bewusstsein, am selben Bau der Humanität arbeitend tätig zu sein, spannt die Weltbruderkette auf“(113).

Die Ethik einer humanitären Freimaurerei orientiert sich deshalb weit besser an Max Webers ‚Verantwortungsethik‘, die davon ausgeht, „dass man für die (voraussehbaren) Folgen seines Handelns aufzukommen hat“(123). Weil man Verantwortung für das eigene Tun nicht delegieren und dessen allfälligen schädlichen Folgen nicht durch die gute Absicht entschuldigen kann, ist „zu einem erfolgreichen Handeln auch in sozialer Hinsicht zuerst einmal eine möglichst präzise Einschätzung der Folgen unseres Handelns“(123) erforderlich. Entscheiden sich ethische Fragen im Handeln, im „Tun in der Praxis“(148), dann gewinnt das alte Konzept der ‚Tugenden‘ eine hohe Bedeutung. Tugenden kann man nicht „theoretisch erlernen“(148), man wird ihnen „nur tüchtig durch das Tun“(148): „Wollen wir ein liebenswerter Mensch sein, müssen wir uns in liebenswerten Handlungen üben und äussern; wollen wir ein fleissiger Mensch werden, müssen wir uns im Fleiss üben; wollen wir ein aufmerksamer Mensch sein, dann müssen wir uns in Aufmerksamkeit üben“(148).

Aus den vorangehend skizzierten Gedanken zu ihrem Verhältnis zur Religion und zu ihrer Ethik ist „humanitäre Freimaurerei“, die nicht von einer Theorie ausgeht, sondern sich in der Praxis, und zwar sowohl in der rituellen wie in der Lebenspraxis ereignet und vollzieht, nicht „spekulativ“, sondern durchaus „werktätig“. Die ihr eigentümliche Form der Werktätigkeit oder Arbeit ist für Klaus-Jürgen Grün deshalb von ganz besonderem Interesse. Karl Marx und Friedrich Engels verdanken wir die Erkenntnis, dass wir „in unseren Produkten nicht nur diese Produkte, sondern zugleich auch das Bewusstsein, deren Produzenten zu sein“, herstelen(151). Worin unsere Arbeit besteht und wie wir sie verrichten, hat also einen Einfluss darauf, wie wir uns als Menschen wahrnehmen und sogar, was wir für Menschen sind.

Der Arbeitsprozess müsste also „Elemente enthalten, die es dem Menschen erlauben, sich als Mensch zu reproduzieren“(151). Das ist heute, wo Menschen in sehr erheblichem Masse „Objekte der Ökonomie“ oder „Objekte der Verwaltung“ sind, selten der Fall. Die freimaurerische Arbeit im Ritual begreift sich demgegenüber als einen Prozess der Menschwerdung – Ritualistik und Symbolik der Freimaurerei erinnern also daran, „dass Arbeit nicht nur einen unterwerfenden, verwaltenden und ausbeutenden Sinn hat, sondern auch einen menschlichen“(150). Ort der rituellen Arbeit, sei sie nun Konferenz, Tempelarbeit oder Tafelloge, ist die Loge.

Die Loge begreift Klaus-Jürgen Grün als einen „Spielraum“. In bewusster „Abgrenzung vom profanen Raum“ schaffen Freimaurer „einen Spielraum, in dem etwas stattfindet, was die Wirklichkeit simuliert, aber nicht identisch ist mit ihr“(162). Dieses Spiel „erzeugt die Tugenden, in denen der Spielende im profanen Leben tüchtig sein will“(163). Es ist also kein harmloses Spiel, sondern eines, dass sogar zur Folge haben kann, dass sich jemand den Regeln des die profane Welt beherrschenden ‚Spiels‘ widersetzt. Es will „ein Gefühl und ein Bewusstsein dafür verstärken, was es heisst, sich als Mensch wahrzunehmen und sich als einen solchen erkennen zu geben. Möge der Mensch zeigen, dass er sich selbst und nicht einem anderen Wesen ähnlich ist!“(168)