Traktat: Herwig Stage – 1717? Viel Dichtung und wenig Gewissheit!

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Traktat: Herwig Stage – 1717? Viel Dichtung und wenig Gewissheit!

Wiki-Vorwort

Alte und ehrwürdige Gemeinschaften pflegen und tradieren alle eine Erzählung über sich selbst. Dies gilt nicht nur für Religionen sondern auch für andere politisch oder kulturell bedeutsame Gruppierungen. In diesen – wie es im heutigen Deutsch oft heißt – Narrativen nehmen immer die Zeit und die Umstände der Gründung einen besonderen Platz ein.

Die Erzählungen werden von Generation zu Generation weitergegeben. Indem sie den Mitgliedern die Bedeutung ihres Umfeldes vermitteln, dienen sie der kollektiven Selbstvergewisserung. Und wenn sie in den Kalender eingebaut werden können, strukturieren sie die Jahre und Jahrzehnte durch die Möglichkeit, rituell zu gedenken oder Feste zu feiern.

Wenn die so vermittelten Inhalte dann aber wissenschaftlich auf ihre Faktizität abgeklopft werden, tauchen regelmäßig berechtigte Zweifel auf, weil sich immer herausstellt, dass vieles von dem, was erzählt und beschworen wird, nicht haltbar ist: Es ist übertrieben, verfälscht oder frei erfunden.

Von dieser – man kann sagen – sozialen Gesetzmäßigkeit ist auch die Freimaurerei nicht ausgenommen. Dies gilt auch für das masonische 'annus mirabilis', das berühmte Wunderjahr 1717 also, das in allen Logen der Welt als Gründungsdatum der modernen Freimaurerei verstanden wird. In Wahrheit liegen die Ursprünge und Anfänge des freimaurerischen Logenwesens aber weit mehr im Dunkel der Geschichte, als es den Freimaurern im rituellen Alltag bewusst ist. Das macht jedoch nichts, ist es doch die Aufgabe dieser Narrative nicht, methodisch gesichertes historisches Wissen zu vermitteln sondern – siehe oben – der gemeinschaftlichen Identitätspflege zu dienen.

Da sich die Freimaurerbewegung als Kind der Aufklärung und damit des beginnenden Wissenschaftszeitalters versteht, ist es aber gerade für sie angebracht, neben der Traditionspflege auch die historische Wahrheit nicht aus den Augen zu verlieren. In diesem Sinn ist der österreichische Freimaurer und Freimaurerforscher Herwig Stage der Frage nachgegangen, was wir wirklich über die ersten Logen und das Jahr 1717 wissen und wissen können. Im folgenden Traktat fasst er seine Erkenntnisse zusammen. Das Freimaurer-Wiki dankt ihm für den Text. Rudi Rabe


Herwig Stage über 1717: Viel Dichtung und wenig Gewissheit.

In den meisten freimaurerischen Publikationen ist nachzulesen, dass sich die spekulative Freimaurerei aus den operativen Bauhütten entwickelt hat und sich am 24.06.1717 die Mitglieder von 4 bestehenden Logen im Logenlokal der Loge Apple Tree Tavern (Apfelbaum), Charles Street, Covent Garden, getroffen, dort die erste Großloge der Welt (Großloge von London und Westminster/Premier Grand Lodge of England, PGLoE ) gegründet, und den ersten Großmeister Antony Sayer gewählt haben. Zudem sei beschlossen worden, dass sich die Großloge vierteljährlich treffen und einmal im Jahr ein großes Fest abgehalten werden wird. Die anderen 3 Logen waren die Loge Goose and Gridiron (Gans und Bratrost), die Loge At the Crown, ( Krone) und die Loge Rummer and Grapes (Wein Pokal/Römer und Trauben).

Ein wahrhaft historischer Tag für uns alle, oder?

Fragen und Ungereimtheiten

Steinmetze: Montage von Jens Rusch
Originalausgabe James Anderson 1723
Reverend (Hochwürden) James Anderson, Prediger an der Kirche der schottischen Presbyterianer in London
John Hamill, Librarian und Curator of the United Grand Lodge of England: „When, why and where did Freemasonry originate? ... There is one answer to those questions: We do not know.“

Das Gründungsdatum 1717 führt uns unweigerlich zur Frage der Entstehung der spekulativen Maurerei. Wenn man sich ernsthaft mit diesem Thema, speziell der englischen Freimaurerei beschäftigt stößt man allerdings auf viele Fragen und Ungereimtheiten.

Ich zitiere unserer Aufnahmeritual (Großloge von Österreich): „Die Freimaurer leiten ihre Namen von den alten Verbrüderungen der mittelalterlichen Bauhütten her. Ihre Bräuche und Lehren haben wir von diesen und anderen von alters her auf geistiger Ebene arbeitenden Bünden, zu denen auch die Mysterien der Antike gehörten, übernommen“.

Stimmt das, oder sind das nur tradierte Wunschvorstellungen?

Ich möchte in diesem Zusammenhang nur eine Aussage unseres Bruders John Hamill, Librarian und Curator of the United Grand Lodge of England, zitieren, der in seinem Buch, „The Craft“ auf Seite 15 schreibt: „When, why and where did Freemasonry originate?“ Seine Antwort: „There is one answer to those questions: We do not know !!!“

Aber kehren wir zu dem bedeutsamen Tag des 24.06.1717, den wir im übernächsten Jahr festlich begehen werden, zurück. Was ist hier wirklich geschehen ? - Wir wissen es nicht !!!

Wir wissen wenig

Wir wissen, dass mehr als berechtigte Zweifel an der bisher tradierten Darstellungsweise angebracht sind. So gibt es nur eine einzige relevante Information über diese Begebenheit, und zwar verweist James Anderson in der zweiten Ausgabe seiner Konstitution im Jahre 1738 (21 Jahre nach 1717) auf dieses Ereignis hin. In seiner ersten Konstitution aus dem Jahre 1723 ist davon nichts zu lesen, obwohl nachweislich 14 maßgelbliche Brüder die Herausgabe inhaltlich geprüft haben. Dies legt den Schluss nahe, die Gründung der Großloge war keiner Erwähnung wert ! Es gibt keinerlei Dokumentation, keine Mitgliederlisten, keine Protokolle, nichts!

Für die Zeit 1717 bis 1723 gibt es keinerlei Aufzeichnungen irgendwelcher Art über die angeblich 1717 gegründete Großloge. Auch über die Aktivitäten anderer Logen bzw. Mitgliederlisten gibt es erst Aufzeichnungen seit dem 24.06.1723.

Worauf und auf welche Quellen Anderson sich bezog, ist unbekannt. Er selbst dürfte erst 1721 dem Bund beigetreten sein, aber auch das ist nur eine Vermutung. Für die Zeit von 1723 bis 1731 blieb er verschollen. Er starb im Jahre 1739.

Einen zweiten Hinweis auf den 24.06.1717 gibt es aus dem Jahre 1763. Ein anonymer Autor veröffentlichte den Artikel „The Complete Freemason or Multa Paucis for Lover of Secrets“. In diesem Schriftstück wird die Gründung der Großloge erwähnt, allerdings wird dabei von 6 Logen gesprochen.

Fast nur Vermutungen und Behauptungen

Wenn wir uns die 4 Gründungslogen näher ansehen, lässt sich folgendes feststellen: Mit hoher Wahrscheinlichkeit bestand nur eine Loge schon vor 1700, und in keiner gab es eine Mischung von operativen und spekulativen Maurern.

Die Lodge ‚At the Goose and Gridiron’, die jetzt den Namen ‚Lodge of Antiquity No. 2’ trägt, könnte die von Anderson auch erwähnte „Old Lodge at St. Pauls“ gewesen sein, die es laut Anderson bereits seit 1693 gegeben habe. Die ‚Lodge at the Crown’ hörte 1736 bereits zu existieren auf, einer Logenaufstellung aus dem Jahre 1729 zufolge könnte sie im Jahre 1712 gegründet worden sein.

Die ‚Lodge at the Rummer and Grapes’, jetzt die Loge ‚Royal Somerset House and Inverness Lodge Nr.4’ könnte jene Loge gewesen sein, die nur aus spekulativen Maurern bestand. Das Datum ihrer Gründung ist unbekannt. Die ‚Lodge at the Apple Tree’ ist jetzt die ‚Lodge of Fortitude and Old Cumberland No. 12’. Auch das Datum ihrer Gründung ist nicht bekannt.

Bei aller Unsicherheit auf Grund der nicht vorhandenen Informationen dürfte also eine einzige Loge von den vier kurz vor 1700 gegründet worden sein. Vermutet wird, dass eine Loge nur aus spekulativen Maurern bestand, (Meinung von David Harrison, der in seinem Buch, History of Freemasonry Gould zitiert), die anderen 3 nur aus operativen Handwerkern. Da es aber, wie gesagt, keinerlei Aufzeichnungen über die Aktivitäten dieser vier Logen gibt und auch keine Mitgliederlisten vorhanden sind, bewegen wir uns nur im Bereich von Vermutungen.

Was nun Andersons Hinweise aus dem Jahre 1738 betrifft, so versucht er eine durchgehende Entwicklung der Logen aus dem 17. Jahrhundert bis zum Datum 1717 darzustellen. Er versucht zu vermitteln, dass die Gründung 1717 eine Wiedergründung („revival“) gewesen sei und verweist in diesem Zusammenhang auf Sir Christopher Wren, der vom Jahre 1685 bis 1695 Großmeister gewesen sei. Außerdem behauptet er, dass es vor 1700 acht Logen in London gegeben habe. Auch das ist nicht beweisbar. Allerdings spricht sogar er von sogenannten „occasional lodges“, also Logen, die nur hie und da zusammengetreten sind.

All dies ist ernsthaft zu hinterfragen!

Schrieb James Anderson ein „Märchenbuch“?

Um Begemann zu zitieren: „So sind beide Ausgaben von Andersons Konstitutionsbuch 1723/1738 die reinen Sagen und Märchenbücher, obwohl es immer noch Leute gibt, die tiefsinnige Geheimnisse darin und dahinter suchen möchten“ (Begemann, Vorgeschichte u. Anfänge der Freimaurerei in England, Band 1, Seite 5).

Was nun die Behauptung betrifft, dass sich die Freimaurerei aus den operativen Logen entwickelt hat, in dem immer mehr nicht der Werkmaurerei angehörende Männer beigetreten sind, so ist auch diese, England betreffend, mit hoher Wahrscheinlichkeit in den Bereich der Phantasie zu verweisen. Ich zitiere hier wieder John Hamill, The Craft, Seite 27, wo es heißt: „All the English evidenc appears in a non – operative context“. Ähnlich sieht dies auch David Stevenson, der in seinem Buch „The Origins of Freemasonry auf Seite 8 schreibt: „England can claim: Earliest lodge composed entirely of non operatives, which can be interpreted as indicating how Englisch masonry was, more than Scotisch, an artificial creation, not something, that grew out of the beliefs and institutions of working stonemasons“.

Das heißt auf den Punkt gebracht: Den Englischen Logen fehlte die Bauhütten Tradition. Das dies in Schottland anders war, lässt sich auf Grund vorhandener Urkunden nachweisen, ich verweise in diesem Zusammenhang nochmals auf das ausgezeichnete Buch von David Stevenson.

Resümee

Es gibt für die Gründung der Großloge von London durch die vier Londoner Logen im Jahr 1717 keinerlei Beweise. Sollte die Großloge zum damaligen Zeitpunkt gegründet worden sein, war es wohl, ich zitiere nochmals Stevenson: „an event of very minor importance in the development of freemasonry and in no sense constituted a milestone in masonic history“.

Bis 1723 scheinen die bestehenden Logen eher Geselligkeitsvereine gewesen sein, die sich auch nur sporadisch getroffen haben und in denen keinerlei rituelle Elemente nachweisbar sind.

Wann sich dies änderte, und wer die Brüder waren, die diese Änderung in Richtung spekulative Maurerei bewirkt haben, ist auch nicht eindeutig nachweisbar. Diese Entwicklung hat einige Jahrzehnte gedauert. Erst allmählich hat die Freimaurerei begonnen, jene Form anzunehmen, die wir heute als die Ursprungsform der institutionellen Freimaurerei anzusehen geneigt sind.

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Siehe auch