Traktat: Johanna Kindermann – Lessings freimaurerische Ideen: Unterschied zwischen den Versionen

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Inhaltsverzeichnis: Humanität - Was ist der Mensch? - Selbsterkenntnis - Unser Platz Im Kosmos - Zur Frage des Anfangs – Pluralismus - Aufklärung „Sapere Aude“  - Zur Verantwortung des Wissenschaftlers - Zur Frage der Anerkennung - Johann Gottlieb Fichte - Lessings freimaurerische Ideen - Die Eleusinischen Mysterien - Das Unaussprechbare - Schechinah - Das Verlorene Wort - Johannes der Täufer - Johannes der Evangelist – Gedenkloge. <br/> Bei Interesse Mail an: BruderLeon@gmx.net]]
 
Freimaurer dürfen nicht an die Beseitigung der Übel gehen, ehe sie nicht den Einzelnen für diese Arbeit vorbereitet haben.
 
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Aktuelle Version vom 21. Februar 2018, 13:32 Uhr

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Das Traktat gibt die Meinung der Autorin wieder. Die Redaktion


Johanna Kindermann ist Freimaurer in Wien. Sie ist Mitglied der ‚Lux Danubiana’: eine Loge der österreichischen Großloge Humanitas Austria.

Wenn wir hier nicht Freimaurerin sondern Freimaurer schreiben, so ist das kein Versehen und schon gar nicht Widerstand gegen sprachliches Gendering, vielmehr erfüllen wir damit einen ausdrücklichen Wunsch Johanna Kindermanns. R.R.



Lessing auf dem Judenplatz in Wien ...
... und derselbe Lessing noch einmal.
Foto: laurencehorton - flickr.com creative commons
Lessing auf dem Gänsemarkt in Hamburg.
"Sinnsuche" 160 x 80cm. Öl auf Leinwand. Gemälde von Jens Rusch.

Gotthold Ephraim Lessings Beschäftigung mit der freimaurerischen Frage und seine Beziehungen zu den Freimaurern gehen bis auf seine Jugendjahre zurück. Unter den im Jahre 1753 (Lessing ist 1729 in Kamenz/Sachsen geboren) veröffentlichten „Fabeln und Erzählungen“ steht das Gedicht „Das Geheimnis“: Der von seinem Beichtvater ausgeforschte und bedrohte Bauernjunge Hans sieht sich gezwungen, ein Geständnis zu machen:

„Er weint’ und sprach voll Reu’: ‚Ich weiß’ …
‚Das weiß ich schon, dass du was weißt; doch was?’ …
‚Was sich nicht sagen lässt’ …
‚Noch zauderst du?’ … ‚Ich weiß’ … ‚Was denn?’ … ‚Ein Vogelnest.’ …
‚Geh, Narr, ein Vogelnest war nicht der Mühe wert, dass du es mir gesagt, und ich’s von dir begehrt.’“

Und Lessing fügt dann an:

„Ich kenn ein drollig Volk (Anmerkung Lessings: die Freimaurer),
mit mir kennt es die Welt,
das schon seit manchen Jahren
die Neugier auf der Folter hält,
und dennoch kann sie nichts erfahren. …
und wissen sie auch was, so kann mein Märchen lehren,
dass oft Geheimnisse uns nichts Geheimes lehren,
und man zuletzt wohl spricht: war das der Mühe wert,
dass ihr es mir gesagt, und ich’s von euch begehrt?“

In der Ausgabe der „Vermischten Schriften“ 1771 wurde dieses die Freimaurerei persiflierende Gedicht fortgelassen; die Gründe sind unbekannt. War es Rücksichtnahme? Eine Art Pietät? Neu gewonnene Erkenntnisse?

Schon 1748 während seines Aufenthaltes in Leipzig, wo ihm Theater wichtigstes Erlebnis gewesen ist, waren unter den Mitgliedern der Neuberin-Truppe (die Lessings Erstling „Der junge Gelehrte“ aufführte) zwei Freimaurer, mit denen Lessing möglicherweise über Freimaurerei gesprochen hat.

Im November 1748 kam er erneut mit freimaurerischen Ideen in Berührung. Sein Verleger Christian Friedrich Voss war Freimaurer. Die nach dem Herausgeber benannte Zeitung druckte schon in den 30er-Jahren des 18. Jahrhunderts Berichte aus Paris und Florenz über freimaurerische Vorgänge. Der engste Freund Lessings in Berlin, der Schriftsteller und Verleger Friedrich Nicolai, war Mitglied der Großloge „Zu den drei Weltkugeln“.

In seiner Hamburger Kritikerzeit (ab 1767) hatte sich Lessing mit den Schriften des Freimaurers Matthias Andreas Alardus auseinanderzusetzen. Alardus war 1741 in die Loge „Absalom“ in Hamburg aufgenommen worden, war deren Sekretär und Redner mehrere Jahre. Unter dem Namen Alardus gab er Reden und Gedichte heraus, die Lessing rezensiert hat.

In Hamburg (Lessing war einem Ruf zur Mitwirkung bei der Gründung des Deutschen Nationaltheaters gefolgt), wo die „Luft geradezu von Freimaurerei erfüllt war“ (wie es in einem Bericht heißt), lernte Lessing einen der führenden Freimaurer der Zeit kennen: Johann Joachim Christoph Bode (Meister vom Stuhl der Loge „Absalom“ 1765).

Lessing äußerte sich gegenüber Bode: „Er wisse das Geheimnis der Freymaurerei, ohne eingeweiht zu sein, und wolle darüber schreiben.“ Bode wies ihn ab: „Hier wissen Sie so wenig, dass ich es leicht haben würde, meinen Speer gegen Sie aufzunehmen.“

Diese schroffen Einwände sollen Lessing auf die Idee gebracht haben, um die Aufnahme anzusuchen (wahrscheinlich 1767). Bode aber glaubte, diesen Wunsch abschlagen zu müssen mit den Worten: „Weil die Fortschritte in unserem System zu langsam für Ihr Alter und für Ihren Charakter sind.“ Diese vorgegebenen Gründe wirken ziemlich eigenartig. Ihrer „höflichen Umbrämung“ entkleidet, scheint es, dass Bode Bedenken gehabt hat, „dem rücksichtslosen Wahrheitssucher und freimütigen Schriftsteller Einblick in die ‚Rittergrade’ der Strikten Observanz zu gewähren.“ (Stradonitz 1922)

Erst 1772 gab es eine zweite Unterredung Lessings mit Bode, der inzwischen einmal geäußert hatte, diskrepant zu der früheren Ablehnung: „Ich wüsste keinen Mann, den ich zum Bruder lieber hätte.“

Aber auch diesmal konnte Lessings erneutes Aufnahmegesuch nicht gewährt werden. Wegen Rivalitäten und Intrigen ruhte die ganze Logenarbeit von 1767-1773. Aber (so schrieb Bode später): „Ein anderer Meister vom Stuhl von einem anderen Systeme“ hatte von Lessings Wunsch erfahren „und machte sich ein Vergnügen daraus, ihm die Erfüllung seines Wunsches anzutragen.“

Johann Freiherr von Rosenberg war dieser Meister in einer von ihm gestifteten Winkelloge „Zu den drei goldenen Rosen“. Es gibt ein Logenprotokoll vom 24. Februar 1770: „…haben wir uns bewogen gesehen, eine Loge … zu stiften, umso mehr, als die Freimaurerei leider allhier teils durch die üble Conduite einiger der hiesigen Freimaurer, noch mehr aber durch die introduierte Reform der so genannten Brüderschaft der Strikten Observanz in den äußersten Unfall geraten. Dergestalt und also, dass sonst hier unter dem Namen ‚Absalom’ weit und breit bekannt gewesene Loge dissolviert und eingegangen ist.“

Rosenberg bemühte sich um eine gesetzmäßige Stiftungsurkunde bei der Loge „Minerva“ in Potsdam, die unter dem Einfluß von Zinnendorf stand. Dieser Johann Wilhelm Kellner von Zinnendorf wird als„heftige, schroffe, auch herrische Natur“ charakterisiert; das ist erwähnenswert, weil diese Charakterzüge eine gewisse Rolle bei der Aufnahme Lessings in eine der ihm unterstellten Logen gespielt hat.

Die eigentliche Aufnahmezeremonie fand am Abend des 14. Oktober 1771 in Rosenbergs Hamburger Wohnung statt. Gleich darauf wurde Lessing in den 2. Grad befördert und in den 3. Grad erhoben. Vom Standpunkt des allgemeinen Logenrechts erfolgte das völlig ungesetzlich. Weder die beiden Aufseher noch die übrigen Beamten waren anwesend. Protokolle fehlen.

Man kann sich dem Eindruck nicht entziehen, dass die Aufnahmezeremonie von Lessing eher negativ erlebt worden ist. Seine Enttäuschung ist nicht zu übersehen, wenn er auf die Frage Rosenbergs, ob er in der Freimaurerei etwas gegen die Religion oder den Staat gefunden habe, ausruft: „Ha! Ich wollte, ich hätte dergleichen gefunden, das sollte mir lieber sein.“

Auf ähnliche Weise hat sich Lessing gegenüber Moses Mendelssohn geäußert, als der ihn gedrängt hatte, über seine Aufnahme zu erzählen: „Hören Sie auf, lieber Moses! Da habe ich meinen Orden für Nichts und wieder Nichts compromittiert.“ So haben wir es gehört. Und doch täuscht die naheliegende Schlussfolgerung, dass die Absage Lessings an die Freimaurerei seiner Zeit „total und definitiv“ war.

Was können die Motive Lessings gewesen sein, sich auf die berichtete Weise von der Freimaurerei abzuwenden? Es hat viele Versuche gegeben, eine Erklärung zu finden – angefangen mit solchen Behauptungen wie Lessing sei nie in das eigentliche Wesen der Freimaurerei eingedrungen, oder der Vermutung, Unzulänglichkeiten des aufnehmenden Meisters hätten eine Rolle gespielt.

In neueren freimaurerischen Veröffentlichungen wird angenommen, dass Lessing von der Wirklichkeit der damaligen Freimaurerei erschüttert war – so eine Veröffentlichung 1981 (W. Kelsch): „Lessing war – ohne es zu wissen, in den Höhepunkt eines großen Schismas der Freimaurerei hineingeraten, war einem Intrigenspiel rivalisierender Logensysteme zum Opfer gefallen und hat Freimaurerei in einem Zerrbild erlebt, das den Grundideen des weltumspannenden Bruderbundes nicht entsprach.“

Seit 1780 erschien Lessings Name nicht mehr auf der Logenliste. Die enttäuschende Erfahrung seiner Aufnahme ließ Lessing seinen ursprünglichen Plan aufgeben, ein Manuskript über den „wahren Orden der Freimaurer“ zu schreiben. So hat sich der Ansatzpunkt für seine Beschäftigung mit der Freimaurerei verschoben. Gegenstand seiner Reflexionen in seiner Schrift „Ernst und Falk. Gespräche für Freimaurer“ ist nicht mehr die Geschichte, sondern die Freimaurerei seiner Zeit und deren ideologische Zielsetzung.

Dieses Spätwerk Lessings (1778/80) ist eine tiefgreifende Auseinandersetzung mit der freimaurerischen Frage im 18. Jahrhundert. Da Lessing selbst diese Gespräche in einem Brief an Matthias Claudius als sein „Freimaurerbekenntnis“ bezeichnet hatte, betrachteten sich die Freimaurer von Anfang an als Adressaten der Schrift. So fordert Theodor Merzdorf 1855 die „Maurer aller Lehrarten“ auf, sich den Lessingschen Standpunkt von neuem klar zu machen, den einzigen, den man einnehmen könnte, wollte man der „Idee der alten Maurerei“ treu bleiben.

In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts wurde Lessing zu einem Heros der humanitären deutschen Freimaurerei. Diese Verherrlichung führte zu Versuchen, den freimaurerischen Lessing-Kult zu sanktionieren. So kam es in den 60er-Jahren des 19. Jahrhunderts zu den ersten Logengründungen, bei denen Lessing zum Schutzpatron gewählt wurde. 1905 hieß es beim Stiftungsfest der Loge „Lessing“, dass er Wesen und Aufgabe des Logenbundes in seinen Freimaurergesprächen niedergelegt hätte: „Soviel auch … über das Freimaurertum geschrieben worden ist, so gibt es doch kein Schriftwerk, das in solcher Klarheit und Bestimmtheit, in solcher Vorurteilslosigkeit und Idealität das Wesen, die Aufgabe und die Notwendigkeit freimaurerischer Arbeit dargelegt hätte.“

Für Br. Boy als Redner waren Lessings Freimaurergespräche das „klassische Gründungsdokument des modernen Freimaurertums“.

Von den vielen Logengründungen im Lessing-Gedenken greife ich noch die in der Zwischenkriegszeit in der (damals so genannten) Tschechoslowakischen Republik entstandene Großloge „Lessing zu den drei Ringen“ heraus.

Der gewählte Kettenspruch, der durch das Schlußwort buchstäblich wie ein Gebet sich anhört:

„Und diese Kette hier soll Bürgschaft sein,
dass wir uns Brüder das Gelöbnis geben:
in unseres großen Meisters Lessing Namen
für Recht und Menschlichkeit zu kämpfen.
Amen.“

Dass es aber selbst in der Lessing-Ehrung polarisierende Tendenzen gegeben hat, kann man z. B. aus einem programmatischen Leitartikel 1929 aus eben dieser Loge ersehen, in dem es heißt: „Würden wir Lessing nicht nur feiern, sondern auch verstehen, dann hätte das Feiern auch einen Sinn. Zumindest den Sinn, dass wir das klingende Wort ersetzen müssten durch den Tatwillen höchster Verantwortlichkeit, vor uns selbst und gegeneinander. Würde Lessing heute leben, er stände als Freimaurer sicher ebenso außerhalb der Loge wie damals, als er mit lodernder Empörung sich aus Fesseln befreite, die ihm lästige Mittelmäßigkeit aufzwingen wollte.“

Von der Rezeptionsgeschichte Lessings kehre ich zurück in seine Zeit. Die vollständige Ausarbeitung von „Ernst und Falk“ fällt in die Jahre 1776/77. Da bei der Entscheidung Lessings für die Veröffentlichung historische Vorgänge des damaligen freimaurerischen Lebens in Deutschland eine nicht unbeträchtliche Rolle gespielt haben, schien es mir notwendig, darauf einzugehen. Nach Auseinandersetzungen feindlicher Logensysteme gab es Reformbestrebungen, denen sich Lessing wahrscheinlich anschließen wollte, ja möglicherweise selbst auf eine Reform einwirken wollte.

Um ein Bild davon zu geben, welchen Lebensumständen Lessing seine Werke abgerungen hat: Am Weihnachtsabend 1777 wird ihm ein Sohn geboren, der 24 Stunden später stirbt. Aus einem Brief danach: „Und ich verlor ihn so ungern, diesen Sohn! Denn er hatte so viel Verstand! so viel Verstand! … War es nicht Verstand, dass man ihn mit eisernen Zangen auf die Welt ziehen musste? dass er so bald Unrat merkte? – War es nicht Verstand, dass er die erste Gelegenheit ergriff, sich wieder davon zu machen? – Freilich zerrt mir der kleine Wuschelkopf auch die Mutter mit fort! – denn noch ist wenig Hoffnung, dass ich sie behalten werde. – Ich wollte es auch einmal so gut haben, wie andere Menschen. Aber es ist mir schlecht bekommen.“

Und wenige Tage später:

„Meine Frau ist todt: und diese Erfahrung habe ich nun auch gemacht. Ich freue mich, dass mir viel dergleichen Erfahrungen nicht mehr übrig seyn können zu machen …“

1778 erschienen die ersten drei Gespräche ohne Angabe des Verfassers, doch war der gedruckte Erscheinungsort Wolfenbüttel ein Hinweis auf den Autor. Eine vieldeutige Dedikation an den Herzog (Ferdinand) steht zu Beginn: „Auch ich war an der Quelle der Wahrheit und schöpfte. Wie tief ich geschöpft habe, kann nur der beurteilen, von dem ich die Erlaubnis erwarte, noch tiefer zu schöpfen. Das Volk lechzet schon lange und vergehet vor Durst.“

Das Volk steht symbolisch für die Maurer, die nach Sinn und Zweck ihres Ordens suchten. Die letzten beiden Gespräche von 1780 wurden aus Rücksicht auf den Herzog unterdrückt und wurden erst 1786, also fünf Jahre nach Lessings Tod, bekannt. Ich werde hier die einzelnen Gespräche nicht gesondert kennzeichnen, die jeweils in Form eines Dialogs angelegt sind: die beiden Gesprächspartner: Ernst, der Häretiker und Zweifler; Falk: der Freimaurer im Sinne Lessings.

Zu Beginn will Falk die dringende Frage Ernsts nach seiner Logenzugehörigkeit nicht direkt beantworten und motiviert seine Absage mit den Worten: „Wer nimmt nicht auf, und wer wird nicht aufgenommen!“

Nicht die ernstlich Suchenden würden aufgenommen, sondern die Neugierigen, die ein Geheimnis kennenlernen, oder solche, die Anschluss an hohe fürstliche Brüder, Titel, etc. gewinnen wollten. Für Falk ist

„die Freimaurerei nichts Willkürliches, nichts Entbehrliches, sondern etwas Notwendiges, das in dem Wesen des Menschen und der bürgerlichen Gesellschaft gegründet ist.“
Aber Ernst: Worte, Zeichen, Gebräuche?
Falk: „Sind nicht die Freimaurerei.“
Ernst: „Was ist sie denn? Diese ... unentbehrliche Freimaurerei?“
Falk: „Etwas, das selbst die, die es wissen, nicht sagen können.“
Ernsts Einwand: „Wovon ich einen Begriff habe, das kann ich auch mit Worten ausdrücken.“
Falk aber: „Nicht immer und oft wenigstens nicht so, dass andere durch die Worte vollkommen eben denselben Begriff bekommen, den ich dabei habe.“
Und Ernst wendet ein: wenn sie es nicht mitteilen können, wie breiten sie ihren Orden aus?
Falk (kurz): „Durch Taten.“ – Aber: „Was Bruder Redner an den Freimaurern preist, das sind nun ... ihre Taten eben nicht.“

Ja, so – Ernst weist ironisch auf soziale Unterstützungen durch Freimaurer hin – (wie Findelhaus, Unterstützung armer Mädchen in Dresden, in Braunschweig arme Knaben im Zeichnen unterrichten lassen).

Falk: Dagegen ist nichts zu sagen. „Denn auch die Freimaurer können etwas tun, was sie nicht als Freimaurer tun.“ Die genannten Taten sind nur ihre Taten ad extra. „Ihre wahren Taten sind ihr Geheimnis“.„Sie sind so groß, so weit aussehend, dass ganze Jahrhunderte vergehen können, ehe man sagen kann: das haben sie getan!“„Gleichwohl haben sie alles Gute getan, was noch in der Welt ist ... und fahren fort, an alle dem Guten zu arbeiten, was noch in der Welt werden wird.“ (Er betont: in der Welt – das heißt?)

„Die wahren Taten“ zielen dahin, um größtenteils alles, was man gemeiniglich gute Taten „nennt, entbehrlich zu machen“. Ein Rätsel für Ernst.

Lessing zeigt sich als radikaler Kritiker aller Staatlichkeit. Die Staaten seien nur Mittel, um die Glückseligkeit jedes Einzelnen zu gewährleisten. Ziel jeder Staatsverfassung muss ihre eigene Auflösung sein, wenn der Mensch fähig sein wird, sich selbst zu regieren.

Lessings Evolutionstheorie des Staates schließt jede Revolution aus. Der Freimaurer muss sich damit begnügen, auf Inhaber der Macht einzuwirken, Übel zu mindern. Keine Beteiligung an spektakulären politischen Ereignissen sollte es für ihn geben – und es fallen die Worte: „Was Blut kostet, ist gewiss kein Blut wert!“

Ernst verlangt den Beweis, dass die Freimaurer wirklich

„jene großen und würdigen Absichten hätten“.
Falk vermeidet eine direkte Antwort: „Habe ich dir von ihren Absichten gesprochen?“
Den Text über ‚Lessings freimaurerische Ideen’ haben wir Johanna Kindermanns Buch ‚Vorträge zur Philosophie’ entnommen: Wir danken der Autorin für das Recht, ihn hier wiedergeben zu dürfen. Die erste Auflage des Buchs ist derzeit vergriffen (Anfang 2016), eine zweite wird vorbereitet.

Inhaltsverzeichnis: Humanität - Was ist der Mensch? - Selbsterkenntnis - Unser Platz Im Kosmos - Zur Frage des Anfangs – Pluralismus - Aufklärung „Sapere Aude“ - Zur Verantwortung des Wissenschaftlers - Zur Frage der Anerkennung - Johann Gottlieb Fichte - Lessings freimaurerische Ideen - Die Eleusinischen Mysterien - Das Unaussprechbare - Schechinah - Das Verlorene Wort - Johannes der Täufer - Johannes der Evangelist – Gedenkloge.
Bei Interesse Mail an: BruderLeon@gmx.net

Freimaurer dürfen nicht an die Beseitigung der Übel gehen, ehe sie nicht den Einzelnen für diese Arbeit vorbereitet haben.

Zum Erkennen wirklichen Fortschritts sind Jahrhunderte notwendig. Aus diesem Grund kann Freimaurerarbeit noch nicht erkennbar sein: sie ist nur Vorbereitung: „säen, bejäten, beblatten“ – die Zeit der Fruchtreife liegt in unabsehbarer Ferne. Seine eigenen Freimaurergespräche sieht Lessing als ein Stück freimaurerischer Arbeit: als „wahre Taten“.

Den Unterschied zwischen Loge und Freimaurerei verdeutlicht Lessing durch eine Analogie mit der Religion: Loge verhält sich zur Freimäurerey wie die Kirche zum Glauben. Lessing distanziert sich von allen mythischen freimaurerischen Traditionen. Jede organisatorische Form hat ihre Zeit. Auch die Freimaurerei zu Zeiten Lessings sieht er nicht als „ewig“. Dem negativen Bild seiner zeitgenössischen Organisation stellt er eine utopische Vision gegenüber.

Das geschichtsphilosophische Konzept von Ernst und Falk verbindet eine universale Kritik an der antagonistischen bürgerlichen Klassengesellschaft mit der Perspektive einer nicht antagonistischen – Staat, Kirche, Standeshierarchie und Eigentum aufhebenden Gesellschaftsordnung.

Von hier aus erklärt sich eine nur auf den ersten Blick eigenartige Pointe der Rezeptionsgeschichte: am Vorabend der bürgerlichen Revolution 1844 erscheint im Pariser Vorwärts ein gekürzter Abdruck von Ernst und Falk. Der Initiator dieses Abdrucks: Karl Marx – der werdende wissenschaftliche Kommunismus schien in Ernst und Falk einen Vorläufer seines Kampfes entdeckt zu haben.

Zieht man auch die anderen zwei Werke in Betracht, auf die sich deutsche freimaurerische Großlogen als „freimaurerische Werke“ beriefen, nämlich „Die Erziehung des Menschengeschlechts“ und der so überwältigend kluge, ergreifende „Nathan der Weise“, so lassen sich die gemeinsamen Ideen erkennen: Vernunft, Sittlichkeit, Toleranz, Pazifismus, Weltbürgertum, Recht, Demokratie, Humanität.

Es gibt einen Bericht, der vor Augen führt, wie Lessing noch im Sterben seinen Vorstellungen von Freundschaft und Menschenwürde treu zu bleiben versucht:

„Man meldete dem Kranken, dass im Vorzimmer Freunde zu Besuch seien. Da öffnet sich die Tür, und Lessing tritt herein, ein Bild des herzzerschneidensten Anblicks! Das … Antlitz … vom kalten Todesschweiße überdeckt … stumm drückt er seiner Tochter die Hand …Darauf neigt er sich freundlich gegen die übrigen Anwesenden, und mit so entsetzlicher Anstrengung es auch geschieht, nimmt er ehrerbietig seine Mütze vom Haupte …“

Er war 52 Jahre alt. Von Lichtenberg (1742-1799), dem geistvollen Vertreter der Aufklärung, ist der Ausspruch überliefert: „Wenn Lessings Darstellung stimmt, ist es eine Sünde, kein Freimaurer zu sein.“

Lessing zeugt von der Freiheit eines Geistes, der seine eigene Sprache spricht und dabei doch von einem höheren Gesetze sich umfaßt weiß. (So in Vorländers „Geschichte der Philosophie“.)


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