Traktat: Nekrolog Emil Selter

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Traktat: Nekrolog Emil Selter

Geliebte Schwestern und Brüder,

meine sehr verehrten Damen und Herren !

Wir haben uns heute hier um diese Urne versammelt, um Abschied zu nehmen.. Abschied von George Emil Selter.


Vor zwei Monaten konnte er sein 75. Lebensjahr vollenden. Wenn wir heute sein Leben überschauen, so können wir zwei schon im Elternhaus vorgezeichnete Bahnen erkennen, die eng miteinander verschlungen seinen Lebensweg ausgezeichnet haben: seine berufliche und berufsständige Tätigkeit - und sein Freimaurertum. Er selbst hat oft bekannt, daß er aus diesem Freimaurertum die Kraft fand für sein sonstiges Wirken. Eine Kraft, die er oft brauchte, denn es wurde ihm und er hat es sich nicht leicht gemacht. Nicht im Leben und nicht im Sterben. Mit dem 20. Jahrhundert begann am 1. Januar 1901 auch sein Lebensweg. Der Vater, Paul Selter, wie er selbst später Kinderarzt und Freimaurer, war Professor in Solingen und zählt zu den Mitbegründern der Deutschen Gesellschaft für Kinderheilkunde. Seine Mutter, Kate Mildred Saville, stammte aus Sheffield in England. Seine Jugend stand unter dem Schatten des 1. Weltkrieges, dessen Ende er nach Notabitur und noch 1 1/2 monatiger Dienstzeit als Vize-Seekadett in Sonderburg erlebte. Das anschließende Studium der Medizin in Bonn, Marburg, Würzburg und Frankfurt am Main wurde auf dem Höhepunkt der Inflation mit dem Staatsexamen abgeschlossen. Nach der Medizinalassistentenzeit in Frankfurt folgte eine einjährige Tätigkeit als RockefellerStipendiat am Krebsinstitut in Heidelberg. Dann trat Emil Selter als Assistent in die Universitäts-Kinderklinik ein, und zwar zuerst in Bonn und 1931 in Frankfurt. In dieser Zeit wird auch seine Ehe mit Luise Käthe Scherber geschlossen, der Tochter des (späteren) Geheimen Admiralitätsrates und Doktors der Rechtswissenschaften Paul Scherber und dessen Frau Jenny.


Der Weg zur Habilitation war so konsequent beschritten, als die politischen Ereignisse seine Fortführung unterbanden. Sein Vater, er und sein älterer Bruder mußten alle im Juli und August 1933 wegen ihrer Mitgliedschaft im Freimaurerbund ihre jeweiligen Stellungen aufgeben. Emil Selter ließ sich dann in einer Fachpraxis in Frankfurt nieder und begann, am Privatkrankenhaus Sachsenhausen eine eigene Kinderabteilung aufzubauen, die zuletzt auf 65 Betten angewachsen war. Der Krieg mit seiner Zerstörung der Stadt im Jahre 1944 erzwang die Evakuierung, während der er in Schlüchtern praktizierte und das dortige Hilfskrankenhaus leitete, bis er kurz vor Ende des Krieges nochmals zum Militärdienst einberufen wurde, und zwar als Matrose, da er sich als Freimaurer geweigert hatte, ein Gnadengesuch auf Zulassung als Reserve-Sanitäts-Offizier zu stellen. Nach Ende des Krieges und kurzer Kriegsgefangenschaft begann schon 1945 der Wiederaufbau des teilzerstörten Hauses und der Praxis. Die Familie war inzwischen durch die Geburt von 3 Töchtern und einem Sohn angewachsen. Neben seiner Tätigkeit als Kinderarzt wurde er in verschiedenen Funktionen für Standesorganisationen und die Stadt Frankfurt tätig und konnte so am Wiederaufbau unserer gesellschaftlichen Einrichtungen mitwirken und die Folgen des Dritten Reiches nicht nur für sich persönlich abtragen helfen. Diese Aufbauphase wurde durch einen für ihn besonders harten Schicksalsschlag schwer beeinträchtigt: am 19.8.1949 ertrank sein einziger Sohn Peter. ie folgenden vier Jahre standen wohl in Zusammenhang mit diesem Ereignis unter dem Schatten einer Reihe schwerer Erkrankungen und Operationen. Trotzdem widmete er sich neben seiner Praxis in immer größer werdenden Umfang auch berufsständischen und öffentlichen Aufgaben. In der 1952 neu geschaffenen Abteilung für Berufsfragen der Deutschen Gesellschaft für Kinderheilkunde übernahm er bald das Amt eines geschäftsführenden Arztes. So wurde er bei allen Kollegen in Deutschland bekannt, denen er oft helfend zur Seite stehen konnte. Andere Ämter in zahlreichen Ausschüssen, Standesorganisationen und Verbänden folgten, unter denen die Vertretung der deutschen Kinderärzte im Verband der Europäischen Berufsvereinigungen und die Mitgliedschaft im Vorstand des Europäischen Fachärzteverbandes besonders hervorgehoben sein sollen. Für seine Verdienste wurden ihm von der Stadt Frankfurt die Römerplakette in Silber und von der Ärzteschaft die Ernst-von- Bergmann-Plakette für Verdienste um die ärztliche Fortbildung verliehen. Mit Recht konnte so im Hessischen Ärzteblatt aus Anlass seines 75. Geburtstages festgestellt werden, daß Emil Selter auf ein reiches und erfülltes berufliches Leben zurückblicken konnte. Obwohl er sein eigentliches Berufsziel aufgrund anderer Bindungen und politischer Entwicklungen nicht erfüllt sah.


Auch in diesen anderen Bindungen - der Freimaurerei - trat er die Nachfolge seines Vaters an. Wenn auch sein - in unserem Sprachgebrauch - profaner Lebensweg einen Menschen voll erfüllen und befriedigen konnte, so würde man dem Verstorbenen damit allein nicht gerecht: die Freimaurerei hatte einen ebenfalls wesentlichen und nicht minder bestimmenden Anteil an seinem Leben. In seiner Familie waren außer dem Vater die beiden Brüder der Mutter, deren Schwager und dessen Sohn und Schwiegersohn bereits Mitglieder unseres Bundes, als George Emil Selter am 27.12.1919 als Student der medizinischen Wissenschaften in die Loge "Zur bergischen Freiheit" in Solingen das maurerische Licht erblickte.

Dort wurde er auch 1921 zum Gesellen befördert und 1922 zum Meister erhoben. Während seines Studiums besuchte er an allen Orten seiner Tätigkeit die dort ansässigen Logen. Er beteiligte sich an freimaurerischen Neugründungen in Elberfeld und Köln. Im Oktober 1927 wurde er Mitgründer der Loge "Beethoven zur ewigen Harmonie" im Or. : Bonn und deren Sekretär bis Johanni 1931. Nach seinem Umzug wurde er noch Mitgründer und Zug.Mstr. v.Stuhl der Loge "Spinoza" im Or.: Frankfurt am Main, die am 23.1.1933 durch die Symbolische Großloge von Deutschland eingesetzt wurde. Kurz danach verloschen die Lichter in den Tempeln der Freimaurer für die Dauer des " Tausendjährigen Reiches". Auf die Konsequenzen, die diese politische Entwicklung auch für sein berufliches Leben hatte, wurde bereits hingewiesen. Tief durchdrungen von Sinn und Wert der Freimaurerei war er auch in dieser schweren Zeit zu keinen Zugeständnissen bereit. Am 27.12.1941, dem 22. Jahrestag seiner Aufnahme, hielt er am Grabe seines Vaters bedeckten Hauptes und mit weißen Handschuhen die Leichenrede für den eigenen Vater mit einem unüberhörbaren Bekenntnis zur Loge. Nach Beendigung des Krieges gründete er dann am 25.9.1945 mit acht anderen Brüdern die Loge "Lessing" im Or. : Frankfurt und wurde deren erster Meister vom Stuhl. Die spärlichen Reste der ehemals 80 000 Freimaurer von Deutschland begannen sich wieder zu sammeln. Emil Selter war bei diesem Wiederaufbau immer an maßgebender Stelle beteiligt. Am 1.6.1947 wurde er in den Obersten Rat des AASR berufen. 1947 nahm er am "Frankfurter Konvent" teil, der die Frankfurter Arbeitsgemeinschaft von Freimaurerlogen begründete, die Vorläuferin der späteren Vereinigten Großloge von Deutschland. Emil Selter war als stellvertretender Vorsitzender dieser Arbeitsgemeinschaft, auch der leitende Meister der ersten Festarbeit aller westdeutschen Logen, die aus Anlaß der Wiederherstellung der Frankfurter Paulskirche zur 100-Jahrfeier der 1 . Deutschen Nationalversammlung dort abgehalten wurde. Eben jener Paulskirche, die später zum Symbol für den Zusammenschluß der deutschen Freimaurer wurde. In dieser Großloge versah er zuerst das Amt des Bibliothekars und später das des Redners. eben der Tätigkeit in höchsten freimaurerischen Körperschaften versäumte er keine Arbeit und keine Zusammenkunft seiner Löge "Lessing" und trug so wesentlich zum Leben dieser Bauhütte bei. Besonders der Geschichte unseres Bundes und seiner Ritualistik galt sein Interesse. Stand zuerst die Weitergabe der Tradition an uns damals Junge im Mittelpunkt seiner Tätigkeit, so trat er später immer mehr ein in grundlegende Untersuchungen, besonders über kulturgeschichtliche Zusammenhänge mit alten Mysterienbünden und religiösen Überlieferungen. Seine im Beruf ungenutzte pädagogische Begabung hat hier reichen Ertrag. Seine ungeheure Arbeitskraft und sein profundes Wissen haben ihn auch im Rahmen unserer Bruderschaft über die Grenzen Deutschlands hinaus bekannt gemacht. Er war zuletzt Ehrenmitglied von vier deutschen Logen und der Loge "Humanitas" im Or.: Sao Paulo, Brasilien, und Empfänger zahlreicher Ehrungen.


Als strenger Hüter ritueller Tradition, die er historisch zu fundieren und in aktuellen Bezug zur Gegenwart zu bringen wußte, hat er mit beigetragen, das freimaurerische Geistesgut über die Zeit der Dunkelheit hinüberzutragen und in zahllosen Vorträgen Abhandlungen und Veröffentlichungen zu verbreiten. Außer dieser Mittlerfunktion waren es vor allem sein unbedingtes Eintreten für die von ihm als richtig erkannten Prinzipien und seine unbestechliche Kritikfähigkeit, die ihn im pro und contra zu einer prägenden Kraft für unsere brüderliche Gemeinschaft werden ließ. Den Aufgaben dieser Gemeinschaft hat er sich nie versagt und zuverlässig erfüllt, was er als seine Pflicht erkannt. Noch am 7. Januar dieses Jahres, als er über die Feiertage vorübergehend aus der Klinik entlassen war, hielt er einen - wie wir heute wissen - letzten Vortrag vor seiner Loge, den er schon Wochen zuvor zugesagt hatte. Nach einer Operation nur anscheinend wieder auf dem Wege der Besserung, verlosch am 22.2.1976 die Fackel seines Lebens. Viele Wege sind wir mit ihm gemeinsam gegangen. Auf diesem letzten Weg kann ihn niemand begleiten. Wir alle leben von Geburt an im Angesicht eines unabweislichen Todes. Bedrohlich und tröstend zugleich. Erst im Bewußtsein dieses Todes gewinnen wir das rechte Maß für das Ereignis Leben. Nur die Annahme dieser Gewißheit und die Überwindung der kreatürlichen Angst vor dem Tode befreit uns zur Meisterschaft in der Gestaltung unseres Lebens. George Emil Selter hat als Maurer die Frage nach der Bestimmung des Menschen beantwortet. Wir nehmen heute Abschied von ihm, der uns Lehrer, Freund und Bruder war. Abschied in Dankbarkeit für alles Gute, das er unserem Leben zugefügt hat. Abschied auch in der Hoffnung, daß er die Kraft und die Weisheit fand, den Sinn seines Lebens zu erfüllen. Uns aber bleibt nichts zu tun, als die Werkzeuge zu versorgen, die er aus der Hand gelegt hat, und sie ihm und uns zur Ehre weiterzuführen.

So mote it be.