Traktat: Reflexionen über das Glück

Quelle/Autor: Philipp Gerlach
Die US-amerikanische Unabhängigkeitserklärung erklärt das Streben nach Glück zum originären, individuellen Freiheitsrecht: „The Pursuit of Happiness“.
Was aber ist Glück?
Etymologisch stammt das Wort „Glück“ von mittelhochdeutsch „gelücke“ und bezieht sich auf den günstigen Ausgang eines Ereignisses. Voraussetzung für das Glück ist damit nicht zwangsläufig das eigene Zutun. Glück kann uns einfach widerfahren. Auf diesen Sinn verweist der Ausdruck „Glück haben“ im Deutschen bis heute.
Das eigene Zutun kann aber freilich auch zum Glück verhelfen. Wie der Volksmund weiß, ist „jeder seines Glückes Schmied“.
In diesem Sinne ist die Bedeutung von Glück mindestens auf zweierlei Art zu verstehen. Einerseits kann sich das Glück rein auf den o.g. günstigen Ausgang einer Situation beziehen. Anderseits kann sich das Glück auf das Empfinden positiver Emotionen beziehen — „happiness“ also, wie es in der Unabhängigkeitserklärung der USA heißt. Im Deutschen spricht man davon „glücklich zu sein“. Ich möchte mich im Weiteren etwas näher mit dem Glücksempfinden, also dem „glücklich sein“ beschäftigen. Es gibt meines Erachtens nach mindestens zwei, recht unterschiedliche Formen des Glücksempfindens: Genuss und Zufriedenheit.
Genuss
Genuss ist das Glücksempfinden, welches aus der Erregung eines oder mehrerer Sinnesorgane stammt. Genuss kommt somit in einer großen Bandbreite vor — vom friedvollen Glück (z.B. durch den Genuss eines Speiseeis) bis hin zur Ekstase (z.B. durch einen Orgasmus). Auch Fernsehen oder eine heiße Dusche, die uns von Dreck und Kälte befreit, können zum Genuss werden. Die antiken Griechen bezeichneten dieses Form des Glücksempfindens als Hedonie (ἡδονή)
Den unterschiedlichen Formen des Genusses sind drei Aspekte gemein.
- Genuss bedarf keiner speziell ausgebildeten Fertigkeiten. Speiseeis, Orgasmen, Fernsehen, heiße Duschen usw. werden eigentlich von allen Menschen gleichermaßen geschätzt ohne dass es einer speziellen Schulung bedurfte.
- Genuss ist unmittelbar und verfliegt, sobald die Erregung der Sinnesorgane aufhört. Z.B. sobald sich das Eis meinen Geschmacksknospen entzieht, verschwindet das damit einhergehende Glücksgefühl.
- Wir gewöhnen uns schnell an den Genuss. Z.B. mag eine Kugel Eis mir noch sehr viel Genuss bringen, aber die vierte Kugel tut dies nur noch im geringen Maße.
Zufriedenheit
Es gibt jedoch mind. eine weitere Form des Glücksempfindens: die Zufriedenheit.
Zufriedenheit ist das Glücksempfinden durch das Meistern einer Herausforderung. Beispiele sind das erfolgreiche Beenden des Studiums, das Komponieren eines Musikstücks, das Besteigen eines 2000ers oder das Halten eines gelungenen Vortrags. Die Antiken Griechen bezeichneten diese Form des Glücksempfindens als Eudaimomnie (εὐδαιμονία).
Kennzeichnend für die Zufriedenheit sind zwei Dinge:
- Die auslösende Tätigkeit erfordert unser Geschick, z.B. in Form erlernter Techniken und Expertise. Es bedarf z.B. gewisser Vorbereitung körperlicher und geistiger Art einen 2000er zu besteigen oder einen Vortrag zu meistern.
- Die Tätigkeit selber verändert uns. Zum Beispiel verschwindet mein Gefühl von Raum und Zeit, wenn ich einen 2000er besteige oder einen gelungenen Vortrag halte. Im besten Falle gehen wir ganz in der Erfahrung auf. Unsere Gedanken sind fokussiert. Wir sind leicht angespannt. (Ein solches Aufgehen kann, muss aber nicht zwingend mit dem Genuss einhergehen).
Im Gegensatz zum kurzlebigen Genuss dauert Zufriedenheit also über den Moment hinaus an. Nachdem ich einen 2000er bestiegen habe oder einen gelungenen Vortrag gehalten habe empfinden wir Stolz. Im Deutschen könnte man insofern bei andauernder Zufriedenheit auch von Glückseligkeit reden.
Warum der Unterschied wichtig ist
Es scheint mir wichtig Glück als Genuss und Glück als Zufriedenheit zu unterscheiden.
Denn: Manchmal steht Genuss und Zufriedenheit entgegen. Beim Fasten zum Beispiel verzichten wir bewusst auf den kurzfristigen Genuss, um langfristig Zufriedenheit zu erlangen. Ebenso führen Drogen unter Abhängigen zur Spannung zwischen kurzfristigen Genuss durch den nächsten Schuss und langanhaltender Zufriedenheit, die Sucht überwunden zu haben.
Ich will damit nicht sagen, dass Genuss per se schlecht und Zufriedenheit per se gut ist. Im besten Falle haben wir in unserem Leben Genuss und Zufriedenheit. Dies lässt sich auch gut anhand einer 2×2 Matrix veranschaulichen:
| Genuss (Hedonie) | |
| Das „süße Leben“ (genussvoll, aber sinnfrei) | Das „gute Leben“ (genussvoll und sinnhaft) |
| Das „bittere“ Leben (genuss- und sinnfrei) | Das „enthaltsame“ Leben (genussfrei, aber sinnhaft) |
Zufriedenheit und das gelungene Leben
Dennoch erscheint mir ein entbehrungsreiches, zufriedenes („enthaltsames“) Leben mitunter gelungener als ein genussvolles, unzufriedenes („süßes“) Leben.
Denken wir an Chris McCandless oder Henry David Thoreau Beide waren Aussteiger der modernen Gesellschaft. Ihre Einstellungen sind damit in gewisser Weise eine Antithese zur materielle Moderne, also zur Gesamtheit der uns umgebenden Konsumgüter (Speiseeis, Fernsehen, Duschen, etc.) und der damit einhergehenden Versprechen auf Glück durch Genuss. Fast die gesamte Werbung z.B. suggeriert uns, unser Glücksempfinden hänge „nur“ vom Kauf eines Shampoos, eines Getränk, eines Auto usw. ab. Aber trotz der bislang schier unvorstellbaren Möglichkeiten des Genusses scheint unser Glück nicht entsprechend angestiegen zu sein. Depressionen und Suizide sind nicht verschwunden. Viele Menschen spüren ein Gefühl der Sinnlosigkeit und inneren Leere. Vielleicht auch weil Sie trotz des permanenten, immer wieder kurzen Genusses keine langanhaltende Glückseligkeit verspüren.
Vielleicht liegt dieses Paradox der materiellen Moderne ein stückweit darin begründet, dass wir, bei all dem Genuss, die Zufriedenheit vernachlässigt haben.
McCandless und Thoreau, so scheint mir, haben dies Paradox verstanden. Und sie haben konsequent gehandelt. Auch wenn wir ihr Schlussfolgerungen nicht teilen müssen. Sie scheinen dennoch im Urteil klar: Genuss ist eine trügerische Abkürzung zum Glück. Denn eine solche Abkürzung erspart uns eben die Arbeit, die wir auf uns nehmen müssen, um langanhaltendes Glückseligkeit zu erfahren.
Es scheint mir keine derartige Abkürzungen zum Glück zu geben. Wir sollten also nicht nur nach Genuss streben. Genuss mag gut sein. Aber Genuss ist nicht erfüllend.
Schluss
Ein geglücktes Leben ist also ein gelungenes Leben — ganz im ursprünglichen Sinne des Wortes Glück von gelücke, also einen günstigen Ausgang herbeiführend. Ein geglücktes Leben ist damit ein glückliches Leben.
Aber derart langanhaltendes Glück bedarf der Arbeit.
Vielleicht ist Freimaurerei ebendies: die Arbeit an der Glückseligkeit?
