Traktat: Zeichnung zum 50. Jubiläum von Br. Emil Selter
Zeichnung zum 50. Jubiläum von Br. Emil Selter
gehalten am 10.1. 1970
Wir konnten heute unsere Kette um ein Glied erweitern. Der amtierende Mstr. hat damit dieser Loge seinen zweiten Sohn zugeführt. Das Aufnahmeritual symbolisiert einen Geburtsvorgang. Es verdeutlicht Sinn und Bedeutung der Aufnahme in der Vorstellung der Bruderschaft: der Suchende erblickt als Maurer symbolisch zum zweiten Male das Licht der Welt - er ist ein zweimal Geborener. Ein hoher Anspruch? Nein, eine Möglichkeit! Wir hoffen, dass sie der Br. Benjamin nutzt zu seinem Segen - dem lateinischen Wortstamm entsprechend: zum Zeichen für den Beginn eines neuen und sinnerfüllten Lebens. Vor 50 Jahren stand vor dem Altar seiner Loge ein anderer Br. Benjamin. Ebenfalls 19 Jahre alt, ebenfalls der zweite Sohn eines MvSt. Die Loge im Or. Solingen hieß "Zur bergischen Freiheit", der Neuaufgenommene Emil Selter, Student der medizinischen Wissenschaften zu Frankfurt am Main. Es mag paradox klingen, aber es ist selten, in so jugendlichem Alter das 50. Maurerjubiläum begehen zu können. Heute kann man ohne Übertreibung sagen: Für Br. Selter war dieser Schritt ein Zeichen. Zeichen und Anlass hinfort im Bewusstsein seines "Berufes als Maurer" zu handeln.
Im Laufe meiner jetzt zwanzigjährigen Bekanntschaft mit ihm habe ich eine Vielzahl von Aussagen
und Urteilen gehört:
- - respektvolle und im höchsten Maße anerkennende,
- - aber auch solche, die nicht eitel Wohlwollen zum Ausdruck brachten.
Zwei Dinge jedoch habe ich nie vernommen:
- - dass er je versäumt habe, was er als maurerische Pflicht erkannt,
- - und dass er ein bequemer Br. sei.
An 1. Januar 1901 begann mit dem 20. Jahrhundert auch der Lebensweg Emil Selters. Er wird dadurch - wie er selbst spaßhaft aber treffend bemerkte - einer er ersten Männer seines Bahrhunderts. Sein Vater, der damals praktische Arzt Dr. Paul Selter in Solingen, der sich später auf die Kinderheilkunde spezialisierte, wurde wegen seiner Verdienste um die Bekämpfung der Säuglings- sterblichkeit zum Professor ernannt. Als Freimaurer war er wegen seiner Tätigkeit im Bunde und seiner zahlreichen Schriften weithin bekannt. In einer Tochterloge der Großen Landesloge der Freimaurer von Deutschland aufgenommen, kam er bald zu dieser Obödienz in Widerspruch und wechselte in die Bayreuther Großloge »Zur Sonne». Seit 192? Mitglied von deren Bundesrat geriet er wegen seiner Grundanschauung von der völkerverbindenden Mission der Freimaurer in jener Zeit nationaler Wirren auch hier in Schwierigkeiten und legte sein Mandat 1931 nieder.
Emil Selter's Mutter war Engländerin, in Sheffield geboren und in frühen Jahren nach Solingen
verzogen.
Das erste Kind dieser Ehe - ein Mädchen - verstarb als Kleinkind. Dieser Verlust blieb offenbar nicht
ohne Einfluß auf die berufliche Entwicklung des Vaters und die Berufswahl seiner beiden Söhne. Der
ältere Bruder Ernst Moritz, ebenfalls Kinderarzt und Mitglied unseres Bundes, verstarb im Dezember
vorigen Jahres.
Br.”. Emil Selter, das dritte und letzte Kind dieser Ehe, wuchs in Solingen auf und ging dort zur Schule,
die er Ende 1918 mit einem Notabitur abschloß, gerde rechtzeitig genug, um noch für 1 l/2 Monate
als Vize-Seekadett in Sonderburg zu dienen. Das anschließende Studium der Medizin in Bonn,
Marburg, Würzburg und Frankfurt wurde auf dem Höhepunkt der Inflation mit dem Staatsexamen
abgeschlossen. Nach Praktikanten- und Volontärzeit erfolgte 1925 die Promotion und danach
Tätigkeiten als Rockefeller-Stipendiat am Krebsinstitut in Heidelberg und als Assistent der
Universitätskinderkliniken Bonn und Frankfurt.
1927 war er Mitgründer der Loge »Beethoven zur ewigen Harmonie» im 0r.\ Bonn und deren
Sekretär bis Johanni 1931« Im Jahre darauf beteiligte er sich an der Gründung der am 23« Januar
1933 in Frankfurt eingesetzten löge "Spinoza".
1929 heiratete er Luise Käthe Scherber die Tocher des späteren Geh. Admiralitätsrates Dr. jur. Paul
Scherber und dessen Frau Jenny). 1930 und 1932 wurden ihm seine beiden älteren Töchter geboren.
Der Wunsch .zu habilitieren-und sich als Dozent für Kinderheilkunde niederzulassen wurde durch das
inzwischen ausgebrochene Dritte Reich' kurz und endgültig beendet. In den Monaten Juli und Aigust
1933 wurden Vater Paul Selter und beide Söhne wegen ihrer Mitgliedschaft im Freimaurerbund aus
ihren jeweiligen Stellungen entlassen. Emil Selter praktizierte fortan als Kinderarzt in Frankfurt am
Main. 1937 wurde der erste und einzige Sohn Peter geboren, ein Jahr danach die dritte Tochter.
1939 "begann der Krieg. Am 22. Jahrestag seiner eigenen Aufnahme, am 27.12. 1941, hielt Emil
Selter im Krematorium zu Düsseldorf seinem verstorbenen Vater die Leichenrede: in
Luftschutzuniform, bedeckten Hauptes, mit weißen Handschuhen und im Zeichen stehend.
Anfang 1944 wurde die Familie nach Steinau evakuiert. Da er sich geweigert hatte, als Freimaurer ein
Gnadengesuch auf Zulassung als Reserve-Offizier der Sanitätslaufbahn zu stellen, wurde er im
September 1944 noch als gemeiner Matrose eingezogen. Er kam im August 1945 krank aus
Gefangenschaft nach Hause.
Bereits am 25.9.1945, also 6 Wochen nach seiner Rückkehr, gründete er mit 8 anderen Brrn. der
früheren Logen "Spinoza" und "Goethe zu den 3 Säulen" diese Loge "Lessing", deren erste
rituelle Arbeit am 29.12.1945 unter seiner Leitung als MvSt. in den Geschäftsräumen des Brs. Geier
stattfand. Die von ihm, Großteiles aus dem Gedächtnis verfassten Rituale werden heute noch, und
nicht nur in unserer Loge gerne benutzt.
Nach dem Wiederaufbau seines teilzerstörten Hauses nahm er seine Praxis als Kinderarzt in Frankfurt
wieder auf und wurde außerdem tätig als
- Mitglied des Zulassungsausschusses der kassenärztlichen Vereinigung
- Mitglied der Vertreterversammlung der Deutschen Ärzteversicherung
- und Sachbearbeiter der Bezirksärztekammer in verschiedenen Ressorts.
In den Jahren 1947 und 1948 beteiligte er sich an maßgebender Stelle am Wiederaufbau der
deutschen Freimaurerei, von deren ehemals über 80.000 Mitgliedern nur noch spärliche Reste übrig
waren.
Am 1.6.1947 wurde er in den Obersten Rat des AASR berufen. Er nahm am "Frankfurter Konvent" teil, der am 15.06.1947 die Frankfurter Arbeitsgemeinschaft von Freimaurerlogen begründete, die erste Institution einer Mehrzahl von Logen zur Vorbereitung einer einigen deutschen Großloge. Ihr Vorsitzender wurde das Ehrenmitglied unserer Loge, der Groß- Kommandeur des AASR, der inzwischen verstorbene Br. August Pauls, sein Stellvertreter Br. Emil Selter. Br. Selter war es auch, der am 16. 5.1948 als hammerführender Mstr. die Festarbeit aller westdeutschen Logen nach einem von ihm ausgearbeiteten Ritual leitete, aus Anlass der Wiederherstellung der Frankfurter Paulskirche zur 100-Jahrfeier der 1. Deutschen Nationalversammlung - eben jener Paulskirche, die später zum Symbol für den Zusammenschluss der deutschen Freimaurer wurde, nachdem dort im Juni 1949 von 174 Logen die Vereinigte Großloge v.D. (VGL) gegründet wurde. In ihr versah Br. Selter zuerst das A.mt des Groß-Bibliothekars und später das des Groß -Redners. Politisch, beruflich und freimaurerisch alle Voraussetzungen für einen hoffnungsvollen Neubeginn nach dem "1.000jährigen Reich". Da traf ihn der wohl härteste Schlag seines Lebens: am. 14.08.1949 ertrank sein einziger Sohn Peter. In einer Reihe schwerer Erkrankungen verlor er bei mehreren Operationen einen großen Teil seines Magendarmsystems. Was blieb, war sein Leistungswille und sein Engagement. Er führte neben seiner Praxis in den Jahren 1945 – 1951/ 1954-1958 und 1962-1963 den ersten Hammer dieser Loge,
- - war Atelierpräsident im A.A.S.R.,
- - Kanzler und Lt.Gr.Kdr. des DOR,
- - war bzw. ist noch Mitglied des Aufsichtsrates der Deutschen Ärzteversicherung Ehrenbeamter der Stadt Frankfurt als Mitglied der Deputation für das Gesundheitswesen
- - Beisitzer im Berufsgericht für Heilberufe
- - und beim Sozialgericht Frankfurt im ehrenamtlichen Richterverhältnis
- - Geschäftsführender Arzt der Abt. für ' Berufsfragen in der Deutschen Gesellschaft für Kinderheilkunde
- - deren Vertreter in der Arbeitsgemeinschaft fachärztlicher Berufsverbände
- - Schriftleiter der "Mitteilungen für Kinderärzte"
- - Vertreter der deutschen Kinderärzte im "Verband der europäischen Berufsvereinigung der Kinderärzte" und
- - Vorstandsmitglied des Europäischen Fachärzte-Verbandes.
Daneben nimmt er in zahlreichen Artikeln und Zeichnungen oft grundsätzlich Stellung zu
anstehenden Fragen und kämpft um seine Vorstellung von einer Freimaurerbruderschaft. Seine be-
sondere Liebe gilt der Geschichte. Er darf heute wohl als einer der profundesten Kenner
maurerischer Geschichte in Deutschland angesehen werden.
Für seine beruflichen Leistungen wurde ihm vor 3 Fahren die Ernst-von-Bergmann-Plakette für
Verdienste um die ärztliche Fortbildung und etwa 1 Fahr später die Ehrenmitgliedschaft der
Deutschen Gesellschaft für Kinderheilkunde verliehen.
Er ist heute Ehrenmitglied von deutschen Dogen und der Loge "Humanitas" im Or.°. Sao Paulo,
Brasilien. Die Annahme des ihm verliehenen Großen Ehrenzeichens der VGL lehnte er 1952 mit der
Begründung ab, er sei für Auszeichnungen noch zu jung.
Wegen seines Gesundheitszustandes hat er inzwischen seine Praxis aufgeben müssen.
Das heißt jedoch nicht, dass er sich aus dem maurerischen Alltagsgetriebe zurückzieht. Nach wie vor erscheint sein Name fast in jedem Heft der ELEUSIS als Autor eines Beitrages - sei es Zeichnung oder Rezension eines Buches - und jeder Br. dieser Loge wird bestätigen, dass Br. Selter bei praktisch keiner Zusammenkunft fehlt - und dazu nicht nur den Glanz seiner Erscheinung beiträgt, sondern äußerst lebhaft, um nicht zu sagen: kaum zu bändigend an dem jeweiligen Geschehen teilnimmt. Getrau seiner Grundhaltung, nach der jeder Br. verpflichtet ist, jedes ihm angetragene Amt in der Loge zu übernehmen, hat er - als es vakant wurde - das wohl am wenigsten begehrte Amt in der Loge, das des Sekretärs, ohne Zögern übernommen. Ich glaube nicht, das es viele Logen gibt, deren Sekretär ehemals MvSt./ Atelierpräsident/ Beamter der Großloge/Kanzler oder Lt.Gr.Kdr. des Obersten Rates des A.A.S.R. war. Allzu leicht erscheint der Weg zum Osten als Einbahnstraße.
Br. Selter hat mit seiner Haltung Maßstäbe gesetzt und wie in vielen anderen Zügen dieser, seiner
Loge "Lessing", ein eigenes Profil gegeben. Sein im Gefühlsbereich eher spröder und zurückhaltender Charakter, die etwas kühle und sachliche Atmosphäre, die sehr verlässliche, manchmal etwas unpersönlich scheinende Beziehung zu den Brrn., das vielseitige und heftige Engagement, die Lebhaftigkeit und oft Härte der Auseinandersetzung mit Dingen und Personen finden auch im Leben dieser Loge eine Entsprechung. Nicht zuletzt deswegen gab es bei uns immer nur sehr wenig Raum für gegenseitige Ehrungen - und wir sollten es auch dabei lassen. Die Daten und Fakten, die ich heute vortragen konnte, sprechen, wie ich glaube, für sich.
Das schließt nicht aus, dass ich unserem Br. Emil Selter, nicht einem, sondern dem Altmeister unserer Loge, an dieser Stelle Dank sage für alles was er für seine Brr. die Loge und die Freimaurerei getan hat und nicht zuletzt auch für mich persönlich. Die Verhältnisse sind heute anders als vor 20 und noch vor 15 Jahren. Viele der hier Anwesenden können vielleicht nicht mehr ermessen, was ein Mann wie Emil Selter zu dieser Zeit bewirkte. Die meisten der damals jungen Menschen standen nicht nur vor den Trümmern ihrer Häuser. Das Chaos der Städte war oft nur Abbild ihres Innern. Hier neue Orientierungspunkte gesetzt, das Gespür für das Umgreifende und nach dieser Zeit der Unmenschlichkeit den Sinn für das Unvergängliche im Menschen geweckt zu haben, ist zweifellos das Verdienst von Männern wie Emil Selter; und so bitte ich Sie, meine Brr., mit den Worten unseres Rituals: - Beugen Sie ihr Haupt vor dem Verdienste. Prüfen Sie aber vorher - mit Milde und Gerechtigkeit bei anderen und, mit Strenge bei sich selbst - dass Sie nicht dem Scheine leisten, was der Wahrheit gebührt.