Johann Caspar Bluntschli: Rundschreiben

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„Wir bekennen uns nur Eines Vorwurfs schuldig“

Zwei ähnlich lautende Rundschreiben von Johann Caspar Bluntschli zu Verlautbarungen der Päpste Benedikt XIV. (1865) und Pius IX. (1869) Ausgearbeitet von Roland Müller


Johann Caspar Bluntschli (1808-1881)


Der Zürcher Johann Caspar Bluntschli war mit 30 Jahren in die Zürcher Loge „Modestia cum Libertate“ aufgenommen worden und massgeblich beteiligt an der Gründung der Schweizerischen Grossloge „Alpina“ 1844.
1864 wurde er in die Heidelberger Loge Ruprecht zu den drei Rosen aufgenommen und noch im selben Jahr zum Stuhlmeister gewählt.
Schon vorher war er beauftragt worden, eine neue Bundesverfassung für die Grossloge „Zur Sonne“ in Bayreuth auszuarbeiten und die Rituale für den Logenbund zu überarbeiten. Für die erfolgreiche Verfassungsreform wurde ihm 1868 die Ehrenmitgliedschaft der Grossloge verliehen. Dieser stand er von 1869 bis 1875 als Grossmeister vor
(siehe J. G. Findel: Geschichte der Grossloge zur Sonne in Bayreuth. Leipzig 1897, 160; Friedrich Kneiser: Geschichte der deutschen Freimaurerei in ihren Grundzügen. Berlin: Unger 1912, 207 - Lennhoff/ Posner, 1932, Sp. 193, behaupten:1872 bis 1878).

Das Rundschreiben von 1865


In.
Die Bauhütte, 8. Jahrgang, No. 44, Oktober 1865, 346-348

Auch in:
Unsere Zeit. Deutsche Revue der Gegenwart. Leipzig: Brockhaus 1867, 754-756,
unter dem Titel: Pius IX. und die Freimaurerei der letzten zwei Jahre.
Es handelt sich um ein Rundschreiben der Loge Ruprecht zu den drei Rosen in Heidelberg vom 14. Oktober 1865 an ihre Schwesterlogen.

Der Inhalt bezieht sich hauptsächlich auf die Bulle von Papst Benedikt XIV. Aus dem Jahre 1751.

Ferner in:
Denkwürdiges aus meinem Leben von J. C. Bluntschli. Dritter Teil, Nördlingen: C. H. Beck 1884, 122-129
http://babel.hathitrust.org/cgi/pt?id=uc1.b3620848;view=1up;seq=10

Dieser Text wurde zitiert von dem NS-Autor Franz Alfred Six (Freimaurerei und Christentum. Hamburg 1940, 48ff. - neu aufgelegt vom Verlag für ganzheitliche Forschung, Viöl 2007)
und später auszugsweise als lange Fussnote wiedergegeben in:
Klaus Kottmann: Die Freimaurerei und die katholische Kirche. Diss. Universität Bochum 2008; Frankfurt am Main: Peter Lang 2009, 170-171.

Das Rundschreiben von 1869


Aus:
Die Bauhütte. Begründet und herausgegeben von Br. J. G. Findel.
Leipzig, den 18. December 1869 (= XII. Jahrgang, No. 51 u.52), 401-402.

Auch in:
Der Bayerische Landbote.
München. Fünfundvierzigster Jahrgang. No. 351. Freitag den 17. Dezember 1869, 2-3
unter dem Titel: Das Konzil und die Freimaurer.
mit folgender Einleitung:
Angesichts des eröffneten Konzils zirkuliert nach Mittheilung des „Fr. K.“ an den Logen Deutschlands ein Rundschreiben, das, wenn die ultramontanen Anführer nicht so sehr darauf bedacht wären, ihrem willenlosen Anhang Alles aus den Zähnen zu räumen, was nicht in ihrem Kram paßt, wohl geeignet wäre, so Manchem, der sich durch Lügen über die Absichten der Freimaurer auf Volksboten-Manier schrecken läßt, den Staar zu stechen.

Freimaurer-Zeitung. Leipzig, Vierundzwanzigster Jahrgang, No. 6, Sonnabend, den 5. Februar 1870, 41-43

Vollständig auch in:
Joseph Gabriel Findel: Geschichte der Grossloge zur Sonne in Bayreuth. Leipzig 1897, im Anhang, 180-185.

Ein Auszug in:
Friedrich Kneiser: Geschichte der deutschen Freimaurerei in ihren Grundzügen. Berlin: Unger 1912, 207-208
Diesen zitiert:
Heinz-Günter Deiters: Die Freimaurer. Geheimnis und Enthüllung. München: List 1963, 65-66.


Dieses Rundschreiben kommt in Johann Caspar Bluntschlis „Denkwürdigkeiten“ nicht vor.



Das römische Konzil und der FrMrbund.


Die Grosse Bundesloge „zur Sonne“ in Bayreuth hat auf ihrer diesj. Conferenz zu Kaiserslautern ein Rundschreiben angenommen, das die Stellung, welche die Mrei den ihr im Syllabus gemachten Vorwürfen gegenüber einnimmt, zu klären geeignet ist.
Dieses Manifest lautet:


„Ehrwürdige und geliebte Brüder!

Der Bund der Freimaurer betheiligt sich in der Regel nicht an politischen und kirchlichen Parteiungen und Kämpfen der Gegenwart. Als ein allgemein menschlicher und sittlicher Verein verbindet er Männer von verschiedenen politischen Parteien und von verschiedenem religiösen Glauben durch das gemeinsame Band der Bruderliebe. Aber jene Neutralität lässt sich unmöglich bewahren, wenn entweder die Existenz des Bundes selbst angegriffen wird oder die sittlichen Güter bedroht werden, welche die Menschheit bereits errungen hat und welche für ihre Bestimmung unentbehrlich sind. In diesen Fällen nöthigt ihn, dort das Interesse der Selbsterhaltung, hier die Pflicht für jene heiligen Güter einzustehen, zur Wachsamkeit und zur Gegenwehr.
In diesem Sinne lenken wir Eure Aufmerksamkeit, geliebte Brr, auf die Plane hin, welche in unsern Tagen von Rom her den moralischen Frieden ‚und den geistigen Fortschritt der civilisirten Menschheit gefährden. Diese Plane werden ohne Zweifel von dem Todfeinde unseres Bundes, dem Jesuitenorden zum Theil entworfen und angeregt, zum Theil unterstützt.

Soweit das bevorstehende römische Concil, zu welchem der Papst Pius IX. alle römisch-katholischen Bischöfe von allen Ländern der Welt einberufen hat, lediglich Dinge des katholischen Cultus oder der kirchlichen Disciplin feststellen will, haben wir keine Veranlassung, uns in diese uns fremde Angelegenheit einzumischen. Selbst die offenkundige Absicht, dem Papste durch ein neues Dogma die „Unfehlbarkeit“ zuzusprechen, berührt uns weit weniger als die modernen Staaten, deren Ansehen und Freiheit durch eine solche übermenschliche Autorität eines Menschen in Kämpfe verwickelt werden können. Wir betrachten es als selbstverständlich, dass diese auf einen kirchlichen Glauben gegründete Unfehlbarkeit für uns schon desshalb weder eine überzeugende noch eine bindende Kraft haben kann, weil das Sittengesetz, das wir als obersten Massstab unseres Verhaltens verehren, nicht von irgend einer kirchlichen Autorität, sondern von menschlich erkennbaren Wahrheiten abgeleitet wird.

Wohl aber haben wir vorerst das Recht unseres Daseins auch der Autorität des Papstes gegenüber zu behaupten, welcher uns dasselbe in der Allocution vom 25. September 1865 [Der Bayerische Landbote: 1867] abgesprochen hat, und ebenso der Autorität des Concils gegenüber, wenn dieses das Verdammungsurtheil des Papstes bestätigen sollte.


Unser der Humanität geweihte Bund ist kein Institut der römisch kathol. Kirche und der römischen Hierarchie nicht unterthänig. So lange der human und frei gesinnte Staat unser Recht schützt und uns in Freiheit leben lässt, brauchen wir uns um den päpstlichen Bannstrahl nicht zu kümmern. Wir bekennen uns nur Eines Verwurfes schuldig, den uns der Papst gemacht, nämlich des Vorwurfs, dass wir „gegen Andersgläubige Duldsamkeit üben.“ Wenn der Papst in dieser Duldsamkeit ein Verbrechen findet, so ist dieselbe in den Augen der gesitteten Welt eine Tugend, deren wir uns nicht zu schämen brauchen. Alle andern Vorwürfe beruhen auf einer Verkennung unserer Denkweise und auf einer Missdeutung unseres Strebens. Der Papst irrt, wenn er uns eine „unsitttliche Secte“ nennt, denn das Sittengesetz ist unser Lebensprinzip. Der Papst irrt, wenn er uns verwirft, dass wir die „europäischen Revolutionen und Kriege verschuldet“ haben, denn wir fordern von allen Mitgliedern gewissenhafte Beachtung der Staatsgesetze und unsere Bauhütten sind Tempel des Friedens.

Der Papst ist im Irrthum, wenn er uns einen „glühenden Hass gegen die christliche Religion“ zuschreibt, denn nicht bloss bekennt die grosse Mehrzahl der Brüder die christliche Religion, auch der Bund selbst ist als ein sittlicher Verein von Verehrung gegen den Stifter der christlichen Religion erfüllt, welcher der Welt das höchste Ideal einer sittlichen Persönlichkeit geoffenbart hat. Der Papst ist im Irrthum, wenn er uns als Verächter und Feinde Gottes bezeichnet, denn die FrMr sind grundsätzlich „Gottesverehrer.“ Indem wir aus unmittelbarer eigener Lebenserfahrung so schwere Irrthümer des Papstes wahrnehmen, wissen wir allerdings, dass der Papst so wenig als andere Menschen vor Irrthum gesichert ist.

Das Concil wird überdem berufen, um die sogenannten „Irrthümer unserer Zeit“, welche der Papst Pius IX. verurtheilt und in dem bekannten Syllabus errorum zusammengestellt hat, ebenfalls zu verdammen. In diesen vermeintlichen Irrthümern erkennen wir grossen Theils wichtige Wahrheiten, welche die ganze gesittete Gesellschaft und die heutigen Staaten billigen, und welche die Menschheit treu bewahren muss, wenn sie ihre göttliche Bestimmung erfüllen soll.

Der Papst verurtheilt im Voraus alle Philosophie und alle Wissenschaft, welche sich nicht von der Autorität der Hierarchie bestimmen, regieren und beschränken lässt. (Syllabus 1—14, 57.) Wir aber wissen, dass die Wissenschaft ihrer Natur nach unabhängig ist und sein muss von jeder kirchlichen Autorität. Wir erinnern uns, dass die grossen Entdeckungen und Fortschritte der Wissenschaft durchweg der freien Forschung, der kritischen Beobachtung, der logischen Denkarbeit zu verdanken sind, und dass fast jede neu erkannte Wahrheit im Kampfe mit den widerstrebenden und widersprechenden kirchlichen Autoritäten errungen und behauptet werden musste.

Der Papst verwirft ferner die Glaubensfreiheit (Syllabus 15—18) und wir ehren sie als eine der heiligsten Errungenschaften der Menschheit, welche endlich nach tausendjährigen Kämpfen, Leiden und Opfern zu allgemeiner staatlicher Anerkennung gelangt ist, und dem verderblichen Glaubenszwang und der mörderischen Ketzerverfolgung ein Ende gemacht hat.

Die Gewissensfreiheit heisst Pius IX. in der Encyclica vom 8. Decbr. 1866 gleichwie sein Vorfahr, Papst Gregor XVI. einen „Wahnsinn“ und wir sehen in ihr die unentbehrliche Gewähr für jede wahrhafte und aufrichtige Beziehung der menschlichen Seele zu Gott und die nothwendige Grundlage der Sittlichkeit im Gegensatze zur Lüge und Heuchelei. '

Ebenso verdammt er die freie Ausübung verschiedener Culte und verlangt die ausschlessliche [!] Herrschaft des römisch-katholischen Cultus in allen Ländern (Syllabus 77 – 79). Wir aber erkennen in der Cultusfreiheit eines der heiligsten Grundrechte der mündigen Menschheit.

Wir verwundern uns nicht, wenn der Papst in vielen Schreiben und wieder in der erwähnten Encyclica auch die Rede- und Pressfreiheit als „eine schreckliche Seuche“ grundsätzlich verdammt; aber wir sind der Meinung, dass die grosse von Gott der Menschheit gesetzte Aufgabe, ihre geistige Anlage in reichster Mannigfaltigkeit zu entwickeln und zu bethätigen, unlösbar wäre, ohne diese uentbehrliche [!] Freiheit.

Wenn endlich Pius IX. „jede Versöhnung des Papstthums mit dem Fortschritte, dem Liberalismus und der modernen Civilisation“ ablehnt (Syllabus 80), so sehen wir in dieser Erklärung das Bekenntniss, dass die päpstliche Lehre unfähig und untauglich sei, das fortschreitende Leben der Menschheit zu verstehen und zu begleiten.
Gewiss ist unser Bund berechtigt und veranlasst, diese wichtigen Fragen zu prüfen und zu beleuchten, denn sie sind für die sittlichen Aufgaben der Menschheit von höchstem Belang.

Es finden sich in unseren Legen gebildete und humane Männer aus verschiedenen Klassen der Gesellschaft brüderlich zusammen, welche ein inneres Interesse an diesen Fragen haben, und, kraft unserer Einrichtungen, welche eine würdige und friedliche Berathung sichern und ein offenes Vertrauen schützen, eher als andere Vereine dieselben mit edlem Freimuth und ernsten Sinnes besprechen und klären können. Ueberdem ist unser Bund, ähnlich der katholischen Hierarchie über den Erdkreis hin verzweigt. Indem er, weitherziger als diese, gebildete Männer nicht nur von verschiedenen Nationen und Staaten, sondern auch von verschiedenen Religionen und Kirchen verbindet, ist er vorzugsweise berufen, dem universellen Angriffe auf die edelsten Güter der Menschheit auch überall eine universelle Vertheidigung entgegen zu setzen.

Wir laden Euch daher ein, geliebte Brüder, diesem geistigen und sittlichen Wettkampfe Eure aufmerksame Theilnahme zuzuwenden, Euch um den Gang desselben näher zu bekümmern, und sowohl in den Logen und gemeinsamen Kränzchen gemäss unserer maurerischen Verfassung und Uebung, als auch einzeln, je nach der verschiedenen Lebensstellung eines Jeden, die sittlichen Pflichten mit erhöhtem Eifer zu üben, welcher in einer ernsten und gefährlichen Zeit von den Wächtern und Vertheidigern jener heiligen Güter der Menschheit gefordert werden muss.

In dieser Erwartung reichen wir Euch die Bruderhand und grüssen Euch nach Maurersitte aufs herzlichste.“

Siehe auch: