Traktat: Das Ritual - ein Abbild des Kosmos
Inhaltsverzeichnis
DAS RITUAL – EIN ABBILD DES KOSMOS
Von Alfried Lehner
(Beitrag zum Katalog der Ausstellung in Weimar)
„Der Mensch selbst aber ist dazu geboren, das Weltall zu betrachten und nachzuahmen – keinesfalls als vollkommenes Wesen, sondern sozusagen als ein winziges Teilchen des Vollkommenen.“ (Cicero)
Versetzen wir uns in dunkle Vorzeiten des Menschengeschlechts zurück, vielleicht bis in die Zeit des Übergangs vom frühen Hominiden zum Homo sapiens, so dürfen wir sicher sein, daß jenes „neue“ Geschöpf die Urangst der höheren Kreatur vor Dunkelheit und Tod mit hinüber genommen hat in das neue Reich. So war in den ersten Anfängen des Sich-selbst-Bewußtwerdens jeder Sonnenaufgang ein Erlebnis göttlicher Liebe, der Erlösung von Dunkelheit und Kälte der Nacht.
Ein gleiches gilt im Jahreszusammenhang für den Frühlingsanfang, wenn die Länge der Tage erstmalig jene der Nächte überdauert. Daß dies keine bloße Spekulation ist, beweisen unzählige Bilder aus frühester Zeit, zumeist Höhlenmalereien. Dabei dominieren solche, die sich auf die Sonne beziehen. Um die Gesetze dieser obersten Gottheit und ihrer Geschwister, der Planeten, vielleicht ihren Willen zu erforschen, wurden umfangreiche „astronomische Meßanlagen“ errichtet, jene geheimnisvollen Steinsetzungen der Megalithkultur wie die berühmte von Stonehenge und viele andere. Daß diese Anlagen gleichzeitig als Kultstätten dienten, leuchtet ein; denn man trat dort ja in Beziehung zu den Göttern. Und auch jene heiligen Orte, die nur noch der Anbetung oder dem Mysterium dienten, blieben nach Osten hin ausgerichtet, wo die höchste Gottheit immer von neuem wiedergeboren wird. Das Ergebnis der Beobachtungen wurde in Bildern festgehalten, die, in Felsen geritzt, uns heute Kunde geben, welch zentrale Rolle die Bewegung der Gestirne und allen voran der Sonne im Leben unserer Urahnen spielte.
Wanderung der Sonne
Der Schwerpunkt der Aussagen jener Symbole bezieht sich auf die Wanderung der Sonne durch die Nacht sowie durch die Unterwelt des Herbst-Winter-Halbjahres. Immer wieder begegnen wir Darstellungen von Schiffen oder Wagen, welche die Sonne zum neuen Aufgang tragen. Zu den häufigen Sonnensymbolen gehört das Radkreuz, das kein Abbild der „Sonnenscheibe“ ist, sondern die Jahreswanderung des Lichtgestirns durch den Tierkreis darstellt. Dabei wurden die Punkte der Sonnenwenden sowie jene der Tagundnachtgleichen besonders hervorgehoben; denn die Sonnenwenden bedeuteten Tod und Wiedergeburt des Gottes auf der einen und sein Triumph über die Finsternis auf der anderen Seite, während die Tagundnachtgleichen sein Hinabtauchen in die Unterwelt und das Wiederauferstehen ins Reich des Lichtes anzeigen.
Weltenbaum
Es liegt nahe, daß Nachtwanderung und Wintersonnenwende das bevorzugte Thema jener Symbole war: Durch magische Hilfe sollte der Tiefpunkt überwunden werden. Doch das Aufzeichnen und Betrachten des Symbols war dem Menschen nicht genug. Die Wirkung wurde verstärkt, durch das persönliche Nachahmen des Sonnenlaufs im Reigen oder im paarweisen Tanz um die Himmelsachse, den Weltenbaum – ein Brauch, der noch heute auf dem Land zu finden ist: Auf Kirchweih- und anderen Festen tanzen junge Paare um einen „Baum“, eine Stange, an deren oberem Ende ein Kranz hängt, mit dem die Tanzenden durch Bänder verbunden sind. Der Weltenbaum ist die Verbindung von Sommer- und Winterpunkt; der Kranz verkörpert den Tierkreis, durch den Sonne, Mond und alle Planeten um die Erde tanzen. Oder denken wir an das Umschreiten der Mitte im Sonnenlauf, das zum ältesten rituellen Brauchtum gehört.
Symbolisches Getötet- und Wiedergeborenwerden
Und noch intensiver wollte der Mensch das Schicksal des Lichtgottes – Untergang und Wiedergeburt – nacherleben: durch symbolisches Getötet- und Wiedergeborenwerden, wie es in den Mysterien geschah. Dort erlitt der Myste das Schicksal des Gottes. Er wurde getötet oder, was dasselbe ist, in die Unterwelt entführt wie Persephone in Eleusis, um dann in Verbindung mit einem dramatischen Mythos wiederzuerstehen. In den Isismysterien wird die Identität von Osiris mit der Sonne unmittelbar empfunden.
In anderen Fällen dient als Medium der Vegetationszyklus, das Stirb und Werde der Natur. Die tröstliche Urerfahrung, daß nach jedem Abend wieder ein Morgen, nach jedem Winter ein Frühling einzieht, wurde in der kultischen Nachahmung des kosmischen Geschehens persönlich erlebt; der Tiefpunkt wurde „durchtanzt“, die untergegangene Sonne, der ermordete Gott erwachte zu neuem Leben.
Hier liegen die Urformen des rituellen Geschehens: im Umschreiten der Mitte – dem Tanz – und im Mysterium von Tod und Wiedergeburt.
Julius Schwabe vermutet, daß das Kernerlebnis aller Mysterien darin bestand, daß man den „Tod und die Auferstehung leibhaftig durchmachte, der persönlichen Unsterblichkeit somit als einer Erfahrungstatsache völlig gewiß wurde.“ Die Zeugnisse von Eingeweihten geben zu denken: Im Homerischen Demeter-Hymnus, einem verschleierten Hinweis auf die Eleusinien, heißt es: „Selig, wer das geschaut von den sterblichen Menschen. Ihm wird schon hier in der Welt nichts Böses mehr zustoßen, und im Dunkel des Hades sieht er das Licht.“ Solche Aussagen können wir durch die Jahrhunderte verfolgen bis zu den Eingeweihten in die Mithrasmysterien. Es muß schon ein überwältigendes und vor allem tröstliches Erlebnis gewesen sein, das die Mysterien den Eingeweihten vermittelten.
Diese Kultform hätte sich sonst nicht über Jahrhunderte erhalten – oder dürfen wir von Jahrtausenden sprechen, wenn wir daran denken, daß die Freimaurerei zuweilen als der letzte Mysterienbund bezeichnet wird?
Wandlungen
Die Rituale, die aus verschiedensten Quellen in diesen Bund eingeflossen sind, haben vielfältige Wandlungen durchlaufen. Wir dürfen sicher sein, daß die frühen Bauhütten keine Rituale pflegten, wie wir sie heute in der Freimaurerei kennen. Und doch waren diese Bruderschaften wie keine andere Organisation geeignet, rituelles Brauchtum in sich aufzunehmen: Kehren wir noch einmal zu jenen Steinsetzungen zurück, mit deren Hilfe unsere Vorfahren den Willen der Götter zu erforschen suchten, so stellen wir fest, daß diese – die Planeten, die noch heute Götternamen tragen – neben der schon erwähnten Rota vier weitere Symbole offenbarten, die seit der Jungsteinzeit in Höhlen, Kultstätten und Gräbern verewigt wurden (auch Sonne und Mond wurden zu den Planeten gerechnet). Das nach oben weisende Dreieck ergibt sich aus den Positionen der Sonne auf dem (später so genannten) Tierkreis zu den Tagundnachtgleichen und zur Sommersonnenwende. Das Quadrat zeichnet der Mond in seinen vier Phasen auf dem Tierkreis. Die jeweils gleiche Konstellation zwischen Sonne und Venus, auf dem Tierkreis fixiert, ergibt ein Pentagramm; und mit Merkur trifft sich das Tagesgestirn je dreimal im Jahr zur oberen und zur unteren Konjunktion, woraus ein Hexagramm entsteht. Ebendiese Figuren dienten seit frühesten Zeiten in der Architektur der Kultbauten als „Schlüsselfiguren“, d. h. als Konstruktionsgrundlagen!
Die Begegnungsstätte zwischen Göttern und Menschen mußte den Göttern entsprechen. Von den Pyramiden Ägyptens über die Tempel des fernen Ostens und des klassischen Griechenlands bis zu den gotischen Kathedralen des Mittelalters bestimmten Kreis, Dreieck, Viereck, Pentagramm und Hexagramm die Proportionen. Der allenthalben angewandte Goldene Schnitt wurde mit Hilfe des Pentagramms gewonnen. Hier liegt der Ursprung des esoterischen Brauchtums der Freimaurer als geistige Nachfolger der Mittelalterlichen Dombauhütten. Die angesprochenen Symbole sind in der Freimaurerei von zentraler Bedeutung.
Lichter in der Loge
Von wirklich rituellen Elementen im Brauchtum der englischen Logen (lodge = Bauhütte) als Ausgangsort der Freimaurerei erfahren wir erstmals im 17. Jahrhundert. Diese Wandlung dürfte bereits auf den Einfluß der großen Zahl von „Angenommenen Maurern“ zurückzuführen sein, die bis dahin Aufnahme in den Logen gefunden hatten. Im Edinburgh Register House Manuscript von 1696 wird nach „Lichtern in der Loge“ gefragt. Die Antwort gibt deren Position nach Himmelsrichtungen an und setzt die Lichter mit dem Meister und den Aufsehern gleich. Wo aber der Raum einer Zeremonie nach Himmelsrichtungen eingeteilt wird, wo der Meister „im Osten“ seinen Platz hat, dort ist der Sonnenkult in dieser Ordnung einbegriffen; dann ist dieser Raum ein Abbild des Kosmos; und dann ist das Umschreiten der Mitte nicht vom kosmischen Geschehen, vom Lauf der Sonne und ihrem Stirb und Werde zu trennen, mag dieses Geschehen den Teilnehmern bewußt sein oder nicht.
Im sogenannten Wilkinson Manuscript (ca. 1727) erfahren wir das erste Mal etwas von einer Umführung des aufzunehmenden Kandidaten. In diesem Manuskript und der nur wenig jüngeren Verräterschrift Masonry Dissected von Samuel Prichard (1730) finden wir bereits eine ganze Reihe von Passagen, die den heutigen Ritualen sehr ähnlich sind.
Reisen
Es ist allerdings fraglich, ob die Mehrheit der Freimaurer des frühen 18. Jahrhunderts z. B. in der Umführung des Neophyten noch einen Zusammenhang mit dem Sonnenkult erkannte. Spätestens ab 1760 verstanden manche Logen die Reisen lediglich als Vorstellung des Kandidaten vor der Bruderschaft, wie eine englische Schrift mit dem Titel Three distinct Knocks zeigt: „Why was you led Three times round the Lodge? – That all the Brethren might see I was duly prepar’d.“ (Warum wurden Sie dreimal rund um die Loge geführt? – Damit alle Brüder sehen konnten, daß ich gehörig vorbereitet war.) So laufen manche Freimaurerrituale auf eine feierliche Zeremonie hinaus, die dem Kandidaten Tugendlehren vermitteln soll. Jene unerbittliche Einschwörung auf einen tugendhaften Lebenswandel hat die ethische Zielsetzung der Weltfreimaurerei bis heute geprägt.
Glauben, in dem alle Menschen übereinstimmen
Von der Geburtsstätte dieses Bundes in England aus wurde jener liberale Geist in die Welt hinausgetragen, der mit den Begriffen „Menschenliebe, Toleranz und Brüderlichkeit“ beschrieben wird und der den Alten Pflichten jenen Satz geschenkt hat von dem „Glauben, in dem alle Menschen übereinstimmen“.
Diesem Umstand verdankt die Freimaurerei ihren polaren Charakter, der sich zum einen in einem Programm der Selbsterziehung („Arbeit am Rauhen Stein“) und der Überwindung des Trennenden zwischen den Menschen, zum andern in den Initiationsriten manifestiert. Auch in den heutigen Ritualen finden wir neben dem eigentlich rituellen Gehalt Morallehren, die einem Ritual, streng genommen, wesensfremd sind. Vergessen wir aber nicht, daß der „gute Mensch“ auch in den Mysterien und alten Baugesellschaften angestrebt wurde!
Frei von Blutschuld
Wer zu den Weihen zugelassen werden wollte, mußte frei von Blutschuld sein. Der griechische Geschichtsschreiber Diodoros (1. Jh. v. Chr.) läßt uns wissen, daß „diejenigen, die an den Weihen von Samothrake teilgenommen hätten, frömmer, gerechter und im ganzen besser würden, als sie zuvor gewesen waren“; und Cicero spricht von der „humanitas“, die Athen aller Welt mit den Mysterien geschenkt habe.
Der berühmte römische Architekturtheoretiker Vitruv (um Christi Geburt) stellt hohe ethische Anforderungen an die Baumeister (bis hin zu philosophischer Bildung), und aus den Hüttenbüchern der alten Dombauhütten haben wir zahlreiche Hinweise auf sittliche und gemeinnützige Zielsetzungen.
Daß die humanitas im rituellen Geschehen inbegriffen ist, dafür gibt es viele, auch psychologische Erklärungen; eine sehr einfache leuchtet nach dem zuvor aufgezeigten starken Bezug des Rituellen zum Sonnenkult ein: Wer einmal „Sonne war“, wer im Umschreiten der Mitte sich ganz mit dem Wirken der ewigen Gesetzmäßigkeiten identifiziert hat, der kann schlechterdings nicht mehr „gegen den Sonnenlauf“ anrennen, indem er seine Umwelt zerstört oder seine Mitgeschöpfe quält. Anders ausgedrückt: Wer im rituellen Erleben einen Sinn für sein eigenes Leben gefunden hat, der wird diesen Sinn auch seinen Mitgeschöpfen zugestehen. Das aber schließt Menschenliebe, Toleranz und Brüderlichkeit ein.
Einklang mit den höheren Mächten
Ein Ritual ist von seinem Wesen her zeitlos. Es spielt das kosmische Geschehen nach – ursprünglich ein bewußtes „Spiel“ des Menschen, um im Einklang mit den höheren Mächten zu leben. Nach und nach ging das Wissen um einzelne Zusammenhänge verloren, und es blieben Formen zurück, die unterschiedlich gedeutet wurden. Die harmonisierende Wirkung dieses Tuns auf die menschliche Psyche aber gehört ungebrochen zu den rituellen Erfahrungen des Menschen. Nur so ist zu erklären, daß Rituale auch heute noch gepflegt werden, und daß sich die Freimaurerei in dieser Form entwickeln konnte, obgleich unser „aufgeklärter“ Geist sich einer entmythisierten und entgötterten Welt gegenübersieht.
Obgleich Rituale letztlich etwas Urreligiöses sind, kann die Freimaurerei von ihrem Selbstverständnis her keine Ersatzreligion sein; denn sie vereint in ihren Reihen Gläubige aller Religionen, auch mit denjenigen, welche glauben, ungläubig zu sein (die meisten von ihnen sind Suchende). Der religiöse Kultus dient der Anbetung des Gottes einer Glaubensgemeinschaft und dem Seelenheil der Gläubigen; die Tempelarbeit soll den Freimaurer zu „humanen“ Menschen erziehen, sie soll eine Hilfe sein für die „Arbeit am rauhen Stein“ und am „Großen Bau“.