Richard Schlesinger

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Schlesinger, Richard

Quelle: Internationales Freimaurer-Lexikon von Eugen Lennhoff und Oskar Posner (1932)

Dr., Regierungsrat, Rechtsanwalt in Wien, *1861, erster Großmeister der Großloge von Wien, gab dieser ihr auf Förderung des inneren und außeren Friedens gerichtetes pazifistisches Programm.

Die österreichische Freimaurerei in der Zwischenkriegszeit.

Von Rudi Rabe.

Richard Schlesinger war Großmeister der Großloge von Wien von 1918 bis 1938. Er erlebte und gestaltete deren Aufstieg nach dem Ersten Weltkrieg auf 24 Logen mit 1.900 Mitgliedern. Ebenso erlitt er im März 1938 beim Nazi-Einmarsch ihr abruptes Ende, das der Gebrochene nur drei Monate überlebte.

Freimaurer in Österreich vor Schlesinger

Dieser Rückblick ist notwendig, wenn man die österreichische Freimaurerei der Zwischenkriegszeit, ja sogar auch der Gegenwart verstehen will. Das habsburgische Vielvölkerreich war damals nach Russland der zweitgrößte Staat Europas. Im späten 18. Jahrhundert hatte die Freimaurerei hier eine Hochzeit. Doch Kaiser Franz verbot 1794 unter dem Eindruck der Französischen Revolution für die ganze Habsburgermonarchie alles was nach Freiheit roch, also auch die Logen. Dieses Verbot galt bis zur Teilung in eine Doppelmonarchie 1867: Jetzt wurde die Freimaurerei in Ungarn erlaubt, in der österreichischen Reichshälfte blieb sie untersagt. Die findigen Wiener fanden einen Ausweg: ‚Grenzlogen‘ im 70 Kilometer entfernten Ungarn unter dem Schirm der neu gegründeten ungarischen Großloge. In Wien waren diese Logen als Kultur- und Sozialvereine tätig.

Noch einmal verstrich ein halbes Jahrhundert bis der Habsburgerstaat Ende 1918 als Folge des verlorenen Ersten Weltkriegs zusammenbrach. Sofort zogen die Grenzlogen – vierzehn waren es inzwischen – nach Wien. Eine Großloge wurde gegründet und zum erstenmal ein österreichischer Großmeister gewählt: Richard Schlesinger. Feierliche Einsetzung am 1. Juni 1919 bei einer Festarbeit mit 600 Teilnehmern.

Wer war Richard Schlesinger?

Der junge Hof- und Gerichtsadvokat vor 1900

Bei seiner Wahl war er 57 Jahre alt, seit 1909 Mitglied der Grenzloge Zukunft, angesehener Hof- und Gerichtsadvokat sowie Mitglied des Obersten Gerichtshofes, Sohn einer Beamtentochter und eines durch die Wirtschaftskrise 1873 verarmten jüdischen Kaufmanns, der bald nach der Krise starb. Richard mußte daher ab dem fünfzehnten Lebensjahr seine Mutter und einen Bruder durch Nachhilfestunden durchbringen. Ein paar Jahre später heiratete er Luise, die Schwester eines Freundes, ein Sohn kam, eine glückliche Familie: Auskommen, Ansehen, Hausmusik, eine bürgerliche Idylle … bis der Erste Weltkrieg alles zerstörte: Seit langem ohne Nachricht von Sohn Hans an der Front nahm sich Luise Mitte 1918 das Leben und Richard fiel in eine tiefes seelisches Loch; auch er war jetzt suizidgefährdet. Doch Hans kam bei Kriegsende zurück, sein Vater erholte sich und ging nach und nach in der königlichen Kunst auf.

"Ein unbeschriebenes Blatt"

Als er zum Großmeister gewählt wurde war Schlesinger – so schreibt die ‚Wiener Freimaurerzeitung‘ 1936 zu seinem 75. Geburtstag – „noch ein freimaurerisch unbeschriebenes Blatt und über die Grenzen seiner Loge ‚Zukunft‘ hinaus kaum bekannt, doch bei allen, die ihn kannten, bei Kollegen und Klienten hoher Wertschätzung und unbedingten Vertrauens sich erfreuend.“ Den „Allgeliebten“ nennt ihn die Zeitung, und das nach inzwischen immerhin 17 (!) Jahren Amtsführung: „Möge unserem allverehrten Großmeister … ein gütiges Geschick noch eine schöne, sorgenfreie, freudvolle Zukunft bescheren. Uns aber möge es beschieden sein, noch viele, viele Jahre seiner gütigen und weisen Führung … in eine bessere, lichtere Zukunft folgen zu dürfen.“

Es tut richtig weh, das als Nachgeborener zu lesen, wissend welche Barbarei nur zwei Jahre später über die österreichische Freimaurerei und das Land und schließlich über die Welt hereinbrach. In der Hoffnung auf „eine bessere, lichtere Zukunft“ waren Ahnungen des kommenden Unheils wohl schon verpackt.

Antrittsrede: Not und Elend

Zurück ins verarmte Nachkriegswien. Im Vordergrund standen auch für die neu gegründete Großloge die basalen menschlichen Bedürfnisse: Essen, Kleidung, Wohnen. „Die Welt ist wie verwaist, die Tage schleichen wie mit gebrochenen Gelenken weiter.“ Dieser Satz aus Richard Schlesingers Antrittsrede Anfang 1919 gibt wenige Monate nach Kriegsende die Stimmung wieder. Um „hungrige Mäuler zu stopfen, das Siechtum einzudämmen, entkräfteten Menschen Rettung zu bringen“ appellierte er „an die Bauhütten der neutralen Länder, vielleicht auch an einige der bisher feindlichen Staaten um Hilfe.“

Der Großmeister schrieb Bettelbriefe an alle europäischen Großlogen, und er hatte Erfolg, wie er später wieder in einer Rede berichten konnte: „Besonders Holland und die Schweiz (beide waren nicht am Krieg beteiligt gewesen) überboten sich an Liebesbeweisen.“ Die holländischen Freimaurer zum Beispiel indem sie Wiener Kinder in Kost nahmen und sie aufpäppelten. „Es fanden sich auch sieben holländische Brüder, die sich das Wort gaben, sich für ein Jahr des Trinkens und Rauchens zu enthalten und das dadurch ersparte Geld den hungernden Wienern zukommen zu lassen“, erzählte Schlesinger gerührt.

Schlesinger: „Fortschrittliche Freimaurerei“ ist politisch

Die österreichische Freimaurerei der Zwischenkriegszeit war vor allem in den zwanziger Jahren nach außen präsenter und politischer als sie es heute ist. Auch darauf geht Schlesinger in seiner Antrittsrede als „eine der schwierigsten Fragen“ ein indem er den Großmeister der Großloge von Bayreuth August Paret zitiert, der meinte, „heute dürfe die Freimaurerei nicht mehr im Verborgenen bleiben, sie habe das Recht und die Pflicht, ihre Meinung zu den Fragen der Zeit zu äußern.“

Der "allgeliebte" Großmeister

„Dieser Gedanke ist sicherlich richtig“, stimmt Schlesinger zu. Denn „es ließe sich unmöglich ein Fortschritt in unseren Arbeiten denken, wollten wir fernerhin die Fragen der Politik, die ja heute im Wesentlichen soziale Politik ist, aus den Bauhütten ausschalten. Damit soll keineswegs gesagt sein, daß in den Logen Parteipolitik getrieben werden dürfe.“ Allerdings „wird es bei dieser Art unserer Betätigung nicht fehlen, daß sich unsere Gegner noch mehr, als es bisher der Fall war, mit uns und mit unserem Wirken beschäftigen. Allein dies darf selbstverständlich für uns kein Hindernis sein, uns aktiv an den Fragen der Politik zu beteiligen.“ „Im besten Sinn fortschrittliche Maurerei“ nennt das Schlesinger schließlich, und er legt damit den Grundstein für die aktiv-politische Haltung der österreichischen Freimaurerei in der Zeit zwischen den beiden Weltkriegen.

Für Pazifismus und Pan Europa

Wie die Hoffnung auf soziale Hilfe, die schließlich eintraf, hatte Richard Schlesinger in seiner Antrittsrede auch die Hoffnung auf faire Friedensverträge für die Verliererstaaten geäußert. Das wurde nicht erfüllt. Die österreichischen und die deutschen Freimaurer zogen daraus jedoch gegensätzliche Schlüsse: Die deutschen schotteten sich gegenüber dem Ausland ab, zu den Freimaurern der Siegerstaaten – vor allem den Franzosen – blieben sie feindlich eingestellt, und sie wurden schließlich immer nationalistischer und in Teilen antisemitisch. Anders die Österreicher: Sie öffneten sich von Anfang an zum Ausland, auch den ehemaligen Feindsstaaten. Und der Pazifismus wurde Richard Schlesinger ein großes Anliegen: „Friede nach innen und nach außen“ war sein Leitmotiv. Immerhin hatten die Österreicher mit dem 1921 verstorbenen Alfred Hermann Fried auch einen Friedensnobelpreisträger in ihren Reihen. Bei der Zehnjahresfeier 1928 charakterisierte der Großmeister das Bewußtsein seiner Großloge so: „Die Ausscheidung eines jeden Nationalhasses, die Unbekümmertheit um religiöses oder politisches Bekenntnis, vielleicht auch das geringe Verständnis für manche anderen Ortes mehr gepflegten freimaurischen Disziplinen, wie etwas für Fragen der Regularität, des Sprengelrechtes und dergleichen, endlich die vollkommene Verständnislosigkeit für Dogmatismus, ist wohl in keiner Bruderkette so ausgebildet wie in der österreichischen.“

Darüber hinaus unterstützten die Wiener Freimaurer die damals sehr frühen europäischen Einigungsideen des österreichischen Schriftstellers und Freimaurers Richard Coudenhove-Kalergie, Gründer der Paneuropa-Union, der ältesten Bewegung dieser Art. Mit einer leidenschaftliche Begrüßungsadresse, abgedruckt auf der Seite 1 der ‚Wiener Freimaurerzeitung‘, empfing Schlesinger 1926 die Teilnehmer des ersten Paneuropa-Kongresses in Wien.

Zerwürfnis mit den deutschen Freimaurern

All das führte zu einem immer tieferen Graben zwischen den deutschen und den österreichischen Freimaurern. Schon nach der Gründung der Wiener Großloge gehörten die deutschen Großlogen zu den letzten, die mit ihr geordnete Beziehungen aufnahmen: erst 1921; manche sehr zögerlich. Und nach einem halben Jahrzehnt begannen die deutschen, ihre Kontakte zu Wien wieder zu reduzieren und nach und nach abzubrechen: die Große Landesloge schon 1926. Zu „internatonal“ und zu „jüdisch“ sei die österreichische Freimaurerei, beklagte 1931 der Deutsche Großlogenbund, immerhin die Sammelbewegung der humanitären (!) Freimaurerminderheit in Deutschland, als er die Beziehungen sistierte und kurze Zeit später abbrach. Formaler Anlaß war die österreichische Unterstützung und Anerkennung der von Leo Müffelmann 1930 gegründeten ‚Symbolischen Großloge von Deutschland‘. Im Gegensatz zu den anderen deutschen Großlogen verfolgte diese wie die Wiener einen international offenen und pazifistischen Kurs.

Richard Schlesinger schmerzte die Abbruchwelle, aber die Österreicher änderten ihre Linie nicht. Mit großem Bedauern aber auch mit „wir sind stolz darauf, andere Wege zu gehen“, reagierte er ebenso betroffen wie selbstbewußt auf den Abbruch durch die Humanitären. Und das ausgerechnet im Jahr 1931, als die Wiener endlich auch von der wählerischen UGL – der United Grand Logde of England – anerkannt wurden.

1.900 Mitglieder und 24 Logen gehörten nun zur Großloge von Wien: der Höhepunkt in dieser wetterwendischen Zwischenkriegszeit, die nur wenige gute Jahre hatte.

Die dunklen Kräfte siegten zuerst in Deutschland …

Die jahrelangen Auseinandersetzungen mit den deutschen Brüdern waren nur die Vorboten für das schreckliche Ende beider: zuerst der deutschen und fünf Jahre später auch der österreichischen Freimaurer. Noch vier Monate vor Hitlers Machtergreifung stellte Schlesinger im September 1932 in einem offenen (!) Brief an die Großloge ‚Zur Sonne‘ in Bayreuth die österreichische Positionen noch einmal klar. Und er warnte die Deutschen eindringlich vor der gängigen Illusion, sie könnten die Nazis durch Nationalismus und Antisemitismus gütig stimmen. Er behielt recht. Nachdem Hitler im Januar 1933 die Staatsgewalt übernommen hatte, war das Ende der deutschen Freimaurerei besiegelt: auf die Anpassung folgten Enteignung und Verbot. Die ersten Logen schlossen 1933, die letzten 1935: trotz weitestgehender Anpassung vor allem der drei Altpreussen.

… und dann auch in Österreich

Den Österreichern gewährte das Schicksal noch eine Galgenfrist. Doch langsam ging es auch hier bergab. Zwar behandelte das kleriko-faschistische Dollfuss-Regime, das in Österreich im Frühjahr 1933 an die Macht gekommen war, die Freimaurer nur "halb feindlich". Es gab kein Verbot: Das wird heute so gedeutet, dass es sich der von Hitler bedrohte österreichische Bundeskanzler Dollfuß mit den Westmächten nicht verscherzen wollte; und er glaubte offenbar, dazu gehöre auch, die ungeliebten Freimaurer nicht zu verbieten. Aber es gab Schikanen: Beamte mußten austreten, und Polizisten konnten jederzeit zu Arbeiten erscheinen, was die schlauen Österreicher im Bedarfsfall, wenn also ein Beamter auftauchte, aus dem Stand heraus mit Fantasieritualen konterten.

Engelbert Dollfuß wurde 1934 bei einem Naziputschversuch ermordet. Der klein gewordene österreichische Staat fühlte sich vom großen Nazinachbarn im Norden und von inneren Gegnern immer mehr bedroht. Und so wurde es für die loyal zu Österreich stehenden Freimaurer unter Dolfuß‘ Nachfolger Kurt Schuschnigg etwas besser. Dennoch dezimierten die teils erzwungen, teils opportunistischen Austritte und der erhebliche Rückgang der Rezeptionen die Mitgliederzahl auf unter tausend, also auf die Hälfte; ein Drittel der Logen mußte geschlossen werden.

Der Sterbenskranke wenige Wochen vor seinem Tod; 'Der Stürmer' veröffentlichte dieses Foto mit hämischen Bemerkungen.

Und am 12. März 1938 war es mit dem Einmarsch Hitlers dann endgültig vorbei. Und zwar sofort: Schon am 13. März begann ein Freimaurer-Sonderkommando der SS aus Berlin mit Verhaftungen führender Freimaurer und der Beschlagnahme aller Logenbesitztümer. Die Verhöre zogen sich über Wochen. Manche Freimaurer konnten emigrieren, andere wurden von den Nazis später in den Konzentrationslagern ermordet.

Richard Schlesinger: am Ende ein Opfer der Nazis

Ebenfalls am 13. März erschienen sechs Beamte beim schwer erkrankten und vor kurzem an der Prostata operierten Schlesinger und befahlen ihm, das Vermögen der Großloge zu übergeben. Der kaum mehr aktionsfähige Großmeister delegierte das an seinen Großsekretär Wladimir Misar. Doch es blieb nicht mehr viel zu tun. Der Eigentümer des gemieteten Logenhauses, ein Parteimitglied, hatte Gestapo-Beamten bereits alle Türen geöffnet, wodurch eine formelle Übergabe überflüssig wurde. Am 16. März wurden Schlesinger und sein Sohn verhaftet und in einer überfüllten Zelle eingesperrt: fast nichts zu essen, Hygiene katastrophal, keine medizinische Betreuung. In wenigen Tagen brach Schlesinger völlig zusammen. Durch die Intervention eines einflußreichen Nazi-Juristen und nach Hinterlegung einer hohen Kaution konnte der Fiebernde in ein Krankenhaus überstellt werden, wo er aber abgeschottet blieb: Nicht einmal sein Hausarzt durfte ihn besuchen. Es ging immer weiter bergab, eine Lungenentzündung kam hinzu, seine Bitte, ihn zu Hause sterben zu lassen, wurde nicht erfüllt.

Der 5. Juni war Richard Schlesingers letzter Tag. An der Beisetzung durften nur der Sohn und dessen Frau sowie die beiden Hausangestellten teilnehmen. ‚Der Stürmer‘ – das Hetzblatt der Nazis – verspottete die Freimaurer und Schlesinger, ohne dessen Tod zu erwähnen, mit einem in der Haft aufgenommenen Foto und folgenden Zeilen: „Der letzte Großmeister … war der Judenbastard Dr. Schlesinger. … Die Ziele der Freimaurerei sind die gleichen wie die Ziele des Marxismus: die jüdische Weltherrschaft.“

Doch Hitler hatte nicht das letzte Wort

Das bescheidene Grab des Großmeisters

„Das war das Ende eines Mannes, der unsere königliche Kunst so unendlich geliebt und die Treue zu ihr in seinem Märtyrertod besiegelt hat.“ Mit diesen Worten schloß Oskar Böhm, der Neffe Schlesingers, sieben Jahre später in der neugegründeten Sammelloge ‚Humanitas Renata‘ seine Trauerrede. In einer Trauerarbeit gedachte das übrig gebliebene Häuflein Wiener Freimaurer am 20. Oktober 1945 ihres verdienten Großmeisters. 43 Brüder waren schon Ende Juli, drei Monate nach Kriegsende, wieder zusammen gekommen. Ganz langsam ging es nun wieder aufwärts. Und heute zählt die stabile und rundum anerkannte Großloge von Österreich 3.300 Mitglieder.

Richard Schlesinger ruht gemeinsam mit seiner Frau Luise und seinem Sohn Hans, der nach Amerika emigrieren konnte und sich dort John nannte, am Wiener Zentralfriedhof: Gruppe 13B, Reihe 3, Grab 18.


Ricchard Schlesinger: „Unsere Einstellung zu den maurerischen Gegenwartsfragen“

Aus einer Rede des Großmeisters vor den Wiener Logen am 6. Dezember 1926. Zusammengefaßt von Rudi Rabe.

Diese Rede ist vielleicht die Programmatischste, die Schlesinger gehalten hat: 1926, in einer Zeit, als die ärgste Nachkriegsnot bewältigt aber das kommende Unheil höchstens für sehr sensible Geister schon zu spüren war. Schlesinger schneidet alles Mögliche an. Ich greife einige Punkte heraus: Konturierte Festlegungen des Großmeisters zu strittigen Themen, welche die Freimaurer auch heute noch beschäftigen. Sie zeigen, wie mutig Schlesinger Grundsätzliches mit Lebensnähe verband: Ein ängstlicher Kleingeist war er ganz und gar nicht.

Zu oft nach den Sternen gegriffen!

Gleich am Anfang der Rede: „Ich gestehe ganz offen, daß wir, seitdem die junge Großloge von Wien ins Leben getreten ist, viel zu oft nach den Sternen gelangt haben und dabei notwendigerweise Gefahr gelaufen sind, den Boden unter den Füßen zu verlieren. Wir hätten uns an das alte Goethewort erinnern sollen, daß man die Sterne nicht begehren, sondern daß man zufrieden sein soll, sich ihrer Pracht freuen zu dürfen.“ Schlesinger nennt seinen Redebeginn ein „pater peccavi“, ein Schuldbekenntnis. Und er empfiehlt, daraus folgende Lehren zu ziehen: Praktischer sein! Uns immer fragen, was wir leisten können! Offenbar wollte der Großmeister mit seinem Appell depressive Anwandlungen abfangen, die aufgetreten waren, weil sich die großen gesellschaftlichen Heilserwartungen nach dem Zusammenbruch der alten Mächte nicht erfüllt hatten.

Betätigung der Großloge und der Logen nach außen?

Das „hat in meiner Denkungsart im Laufe der Zeit … einige Wandlungen erfahren. Sooft wir den Versuch machten, … eine derartige Außenarbeit zu unternehmen, haben wir die Erfahrung gemacht, daß draußen Organisationen tätig sind, gegen welche die unsrige eine lächerlich verschwindende Kleinigkeit ist. Und es fragt sich, ob es einerseits der Würde der Loge oder der Großloge entspricht und ob andererseits mit den vorhandenen Mitteln so viel geleistet werden kann, daß wir mit diesen Organisationen in Konkurrenz treten können … oder ob diese Außenarbeit nicht Sache jedes einzelnen Bruders sein und bleiben soll.“ Dies „setzt voraus, daß ein gewisser bürgerlicher Heroismus in unseren Reihen Platz greift. Das ist ein heikler Punkt. Ich verstehe darunter, daß der Bruder den Mut hat, sich als Freimaurer auch nach außen zu bekennen.“ Wiewohl man das auch wiederum nicht von jedem verlangen könne, relativiert Schlesinger dann seinen Gedanken wieder.

Es gibt verschiedene masonische Wege

Offenbar beobachteten damals viele ältere Brüder bei den Jüngeren einen „Hang zum Quietismus“, weil die Jungen pragmatischer waren und weniger hochfliegende Vorstellungen von der Erneuerung der Gesellschaft hatten. Schlesinger verteidigt die Jungen, und er schließt damit gedanklich an die eingangs ausgesprochene Warnung vor dem Griff nach den Sternen und dem Verlust der Bodenhaftung an. Die Jungen wollten sich keineswegs „hinter geistigen Klostermauern verstecken.“ Jeder Bruder kann, „mag er seinem freimaurerischen Leben welchen Inhalt immer geben, uns ein treuer Helfer sein.“

Wer kann Freimaurer werden?

Was ist zum Beispiel ein ‚guter Ruf‘? Der erfahrene Rechtsanwalt möchte, „daß aus unseren Fragebögen die Frage, ob der Suchende sich nie einer unehrenhaften Handlung schuldig gemacht habe, ausgeschaltet werde.“ Nie würde es ihm einfallen, sagt er, einem einmal im Leben gestrauchelten „Manne dauernd meine Achtung zu versagen.“ Es sei „die größte Überhebung, deren sich ein Menschenbund schuldig macht, wenn er jemandem, weil er vor Jahren im jugendlichen Ungestüm eine Torheit begangen hat, den Zutritt versagen würde.“ Die Frage sei außerdem unwürdig: Der gewissenhafte und daher „wertvolle Suchende“ wird die Fragen bejahen und „auf seine Aufnahme verzichten, der andere, weniger Skrupulöse wird sie ruhig verneinen und so mit einer Lüge in unseren Bund treten.“

Gegen Intelligenzdünkel und Starkult

Schlesinger ist gegen das Suchen nach Stars, und zwar wegen der „mit dem Starsystem verbundenen Unannehmlichkeiten, die sich in den Logen nicht anders als in der profanen Welt zeigen“ und „weil es die größte Ehre für den Suchenden sein muß, der Kette angehören zu dürfen.“ „Es gibt in der Welt so unendlich viele brave, anständige Menschen von lauterstem Charakter, von denen wir in den Logen nichts zu sehen und zu hören bekommen, weil diejenigen Brüder, die als Bürgen in Betracht kommen, sich nicht getrauen, sie unseren Reihen zuzuführen, hauptsächlich aus Angst, der Betreffende sei des gesprochenen oder geschriebenen Wortes nicht in der nötigen Weise mächtig.“ Schlesinger warnt vor „Intelligenzdünkel“ und appelliert an seine Brüder, Männer aufzunehmen, die „reinen Herzens zu uns kommen.“

Weibliche Freimaurer?

Auch das schneidet der Großmeister in seiner Programmrede 1926 überraschend an. Er glaubt „zwar nicht, daß heute schon ein Bedürfnis besteht, Frauen in unsere Reihen aufzunehmen. Was ich aber bedaure, ist, daß wir – gefesselt durch internationale Verpflichtungen – nicht einmal imstande sind, uns zu erkundigen, wie es in dieser Loge aussieht (gemeint: der Wiener Droit Humain mit Frauen und Männern), und daß, wenn wir es tun, wir ein Verbot verletzen, das die Großloge von Wien in Übereinstimmung mit ihren internationalen Verpflichtungen erlassen mußte. … Die Frage verdient, anders als es bisher geschehen ist, in unseren Logen behandelt zu werden. Mit allgemeinen Redensarten und mit Späßen kann sie nicht erledigt werden.“

Klein bleiben oder weiter wachsen?

„Es gibt in unserer Mitte eine ganze Reihe von gewichtigen Stimmen, die nicht wünschen, daß die Zahl der Brüder wachse. Ich glaube, daß diese Brüder mit den österreichischen Verhältnissen nicht hinlänglich vertraut sind, den es ist keine Phrase, was ich jetzt ausspreche: Wenn es ein Land gibt, in dem es notwendig ist, daß die Freimaurerei gewaltig und mächtig sei, ist es Österreich (Zustimmung). Denn leider ist die Verpöbelung der Sitten in unserem armen Land sehr weit fortgeschritten. Der Parteikampf hat hier Formen angenommen, die nicht nur den intellektuellen, sondern jeden anständigen Menschen schrecken müssen, und da wäre es gut, wenn der freimaurerische Gedanke endlich ganz Österreich, wie die Gegner sich ausdrücken, ‚durchseuchte‘.“


Siehe auch