Rezension: Peter Stiegnitz – Auf allen Stühlen

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Rezension: Peter Stiegnitz – Auf allen Stühlen

Die folgende Rezension schrieb ich Ende 2013. Da war der am 30. September 1936 geborene Peter Stiegnitz, ein Bruder der Wiener Loge 'Zum rauhen Stein', 77 Jahre alt. Er hatte noch drei Jahre zu leben: Im Jänner 2017 starb er im 81. Lebensjahr. Rudi Rabe

Der Weg eines assimilierten Juden

Von Rudi Rabe aus Wien.

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Wer ist Peter Stiegnitz? Das wäre in Wien eine überflüssige Frage, ist er doch ein Freimaurer, der hier einen besonderen Namen hat. Nicht nur weil er bald ein halbes Jahrhundert dabei ist, sondern auch weil er zum kleinen Kreis der führenden österreichischen Freimaurerdenker gehört. Und weil er mehrere logenübergreifende hohe Ämter bekleidete, die er offenbar sehr genoss: „Die beiden schönsten ‚Sessel’ waren die des Großkapitelmeisters an der Spitze einer Form der so genannten ‚Hochgrad Freimaurerei’ und meine Mitgliedschaft im Großbeamtenrat der Großloge von Österreich.“

Wie eine Kordel aus zwei Strängen hat Peter Stiegnitz’ sein Buch aufgebaut. Der eine Strang ist seine persönliche Lebensgeschichte, der andere seine Auseinandersetzung mit dem Dasein als assimilierter Jude. Beide Stränge umschlingen einander vom ersten bis zum letzten Kapitel.

Zuerst entkam er Hitler und dann Stalin

Als achtjähriger ungarischer Judenbub entkam Peter 1944 in Budapest nur knapp dem Abtransport nach Ausschwitz, weil er sich verstecken konnte; ebenso seine Eltern. Dann regierten die Kommunisten, und es wurde nur graduell besser: Der Vater, ein Zuckerfabrikant, wurde enteignet und die ganze Familie in ein fernes Bauerndorf an der Grenze verbannt, wo die Deportation nach Sibirien auf sie wartete. Aber sie hatten wieder Glück: Sie konnten bleiben und nach Stalins Tod zurück in die Hauptstadt. 1956 gelang ihnen schließlich die Flucht ins gerade frei gewordene Österreich.

Dafür ist Peter Stiegnitz bis heute so dankbar, dass er immer wieder mit „reemigrierten österreichischen Juden“ hadert, „die sich gutteils bis zum heutigen Tage nicht zu Österreich bekennen, doch alle Annehmlichkeiten, die ihnen geboten werden, großherzig annehmen.“

Das Büßerhemd der NS-Nachkommen „hilft niemandem“

So was liest man selten: Es ist politisch nicht korrekt, liegt es doch quer zum schlechten Gewissen des offiziellen Österreich. Aber Stiegnitz geht noch weiter. Durch das ganze Buch zieht sich eine vehemente Kritik an diesem schlechten Gewissen: am „Büßerhemd“, das in Österreich und noch mehr in Deutschland zu einem „Pflichtkleidungsstück“ geworden sei. „Man kann alles übertreiben“: auch die „’Wiedergutmachungs’-Manie". „Die permanente Selbstgeißelung bereits der dritten Generation von Nachkommen der NS-Großväter hilft niemandem. Wir Juden sollten unsere eigene Identität nicht mehr aus den morschen Steinen von Auschwitz mühsam zusammenbasteln.“

Lieber auf allen Stühlen als dazwischen

Aber natürlich ist die Sache mit der Identität nicht so einfach. Auch wenn man wie Peter Stiegnitz schon als Kleinkind evangelisch getauft wurde, bleibt die unentrinnbare Zuordnung: einmal Jude, immer Jude. Bleibt diese vertrackte „Nirgendszugehörigkeit“, das Gefühl „zwischen allen Stühlen“ leben zu müssen. Das will er nicht, und dagegen hat Peter Stiegnitz seine eigene Strategie entwickelt: „Weil ich nicht ‚zwischen allen Stühlen’ sitzen und mein ‚fürchterliches Schicksal’ beklagen will, habe ich mir vorgenommen, stets und nach Möglichkeit immer und überall, wo es nur geht, ‚auf allen Stühlen’ zu sitzen.“

Das ist kompliziert genug: „Die psychologische Last der Konvertiten war“ und ist offenbar immer noch „groß: Sie verloren ihre Identität und gewannen in Wirklichkeit keine neue dazu.“ Als Kronzeugen nennt der Autor die österreichischen Sozialdemokraten Bruno Kreisky und den „politischen Generalversager“ Otto Bauer. Aber ‚zum Glück’ gibt’s den „friedlichen“ Antisemitismus: „das Schmiermittel für unseren inneren Motor, der jedweden echten Austritt aus dem ‚Judentum’, aus dieser Schicksalsgemeinschaft“ dann doch wieder unmöglich macht.

Judentum und Freimaurerei

In einem kompakten Kapitel geht der arrivierte Freimaurer Peter Stiegnitz schließlich in der Mitte des Buches auch auf das Thema ‚Juden und Freimaurerei’ ein. Höchste Zeit, gehört doch das Märchen von der ‚jüdisch-freimaurerischen Weltverschwörung’ seit langem zur Vorstellungswelt der Freimaurerfeinde. Peter Stiegnitz weist diesen Unsinn zurück und schlägt dann aber einen überraschenden Hacken: Es wäre „falsch, die essentielle Verbindung zwischen Juden und Freimaurerei zu leugnen, da die Gemeinsamkeit zwischen dem jüdischen Glauben und der freimaurerischen Ideologie ohne Zweifel vorhanden ist.“

Keine Verschwörung aber Gemeinsamkeiten

Er untermauert diese Feststellung mit mehreren Thesen. Zum Beispiel einer soziologischen: Besonders in Österreich fanden die assimilierten Juden in der Freimaurerei „eine neue geistige Heimat“. Oder einer rituellen These: Das freimaurerische Ritual ist wie das jüdische schriftgebunden; „die Dramaturgie schließt die alleinige Bildsprache aus“. Oder ideell: Die ursprünglich jüdische „Lehre, dass der Mensch Gottes Ebenbild ist, führte geradewegs zur Menschenfixierung der Freimaurerei.“

Auch die mosaische „Vitalität“ habe auf die Freimaurerei abgefärbt: „Die freimaurerische Tradition sprudelt aus einer der Hauptquellen des Judentums, aus der ‚Vielfältigkeit’ des Denkens, Disputierens und Dokumentierens.“ Und der jüdische „Gedankenzug von der ‚Knechtschaft’ in die ‚Freiheit’ ist überhaupt ein wesentliches Element der freimaurerischen Moral.“

Warnung vor 'Sozialpyromanie'

Klingt alles sehr nett für die Freimaurer, aber so durchgängig enthusiastisch ist Peter Stiegnitz dann auch wieder nicht. Das wird in einem Kapitel klar, in dem er sich gegen die – wie er sie nennt – „Sozialpyromanen“ wendet. Und nun bekommen auch die Freimaurer ihr Fett ab: „In jedem Land gibt es Millionen ‚Ersatz-Politiker’, die es haargenau wissen, wie man ein Land regieren muss, und ‚Ersatz-Priester’ predigen ein Loch in unser Gewissen. Vor allem die vielen diskreten und weniger diskreten Klubs und Vereinigungen, wie die Freimaurer, die Schlaraffen, die Rotarier, die Lions und andere ähnliche Gemeinschaften, bieten alle einen hervorragenden Boden für die unterschiedlichsten ‚Ersatz’-Spielchen.“

Da könnte was dran sein. Das ändert aber nichts daran, dass die Freimaurerei für das Leben des getauften Juden Peter Stiegnitz ein Glücksfall geworden ist: „Wir mehr oder weniger assimilierten Juden schaffen uns – außerhalb unserer Familien – eine neue, manchmal auch eine virtuelle Heimat.“ Die einen da, die anderen dort, und „ich in der Freimaurerei, wo ich meine ‚geistige Heimat’ fand.“

Ein lesenswertes Buch: keineswegs nur für Freimaurer sondern für alle, die sich für unsere Zeit interessieren.

Peter Stiegnitz: Auf allen Stühlen. Verlag Bibliothek der Provinz, Wien 2013.

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