Rezension: Henning von Wistinghausen - Freimaurer und Aufklärung im Russischen Reich. Die Revaler Logen 1773 - 1820.

Aus Freimaurer-Wiki

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Henning von Wistinghausen: Freimaurer und Aufklärung im Russischen Reich. Die Revaler Logen 1773 - 1820. Mit einem biografischen Lexikon.
Eine Rezension von Rüdiger Wolf.




Der Rezensent Rüdiger Wolf ist ein österreichischer Freimaurer und Freimaurerforscher. Er war von 2004 bis 2011 Direktor des Freimaurermuseums Rosenau, und wirkte auch in anderen Museen an mehreren Ausstellungen mit, die etwas mit Freimaurerei zu tun hatten: 2006 an der Mozart-Ausstellung in der Wiener Albertina; 2012 an der Soliman-Ausstellung im Wien-Museum; und 2014 an der Gestaltung des Katalogs der Herzog Albert-Ausstellung in der Albertina.

Darüberhinaus hat Rüdiger Wolf historische Freimaurerthemen in Artikeln und Büchern publiziert, etwa in seinem Buch
Die Protokolle der Prager Freimaurerloge „Zu Den Drei Gekrönten Säulen“ 1783-1785.

Auch im Freimaurer-Wiki gibt es mehrere Texte, in welche seine Forschungsergebnisse ganz erheblich eingeflossen sind:

Zum besseren Verständnis noch die Übersetzung einiger historischer Landschaften und Städtenamen in die heutige Geographie: Das frühere Livland ist heute ein Teil Lettlands und Estlands. Das historische Kurland ist ein Teil Lettlands. Reval ist die alte deutsche Bezeichnung für Tallinn, die Hauptstadt des heutigen Estland. Und Mitau heißt heute Jelgava, eine Stadt in Lettland südwestlich der Hauptstadt Riga. Rudi Rabe




Die Rezension von Rüdiger Wolf
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Eine Landkarte aus einem alten Meyer-Lexikon mit dem historischen Baltikum im 19. Jahrhundert: Der zur leichteren Orientierung oben eingefügte Pfeil zeigt auf Reval in Estland, heute die estnische Hauptstadt Tallinn. Der mittlere Pfeil zeigt auf Riga in Livland, heute die Hauptstadt Lettlands; und der untere auf Mitau in Kurland, heute Jelgava in Lettland. - Diese Städte und Regionen gehörten damals zum zaristischen Russland, heute sind sie Teil der souveränen Staaten Estland und Lettland. Bis zum Ende des Zarenreiches 1917 und darüber hinaus war ein Teil der Bevölkerung deutsch: vor allem das städtische Bürgertum und Großgrundbesitzer, zusammen gegen zehn Prozent der Einwohner. Das endete mit dem Zweiten Weltkrieg.

Bislang fand die Freimaurerei in den ehemals russischen Ostseeprovinzen Estland, Livland und Kurland in der masonischen Fachliteratur kaum Niederschlag. Im Zusammenhang mit der Beschreibung der Freimaurerei Russland werden Logen in Reval, Riga und Mitau am Rande erwähnt.

Gleichsam als Paukenschlag wird nun ein Werk vorgestellt, in welchem auf 1417 Seiten die Bedeutung der Freimaurerei in Estland, als Beförderer der Aufklärung und prägend in der gesellschaftspolitischen Entwicklung des Landes, in der Zeit 1773 - 1820 dargelegt wird.

Der Autor Henning von Wistinghausen gehört einer alteingesessenen deutschbaltischen Familie an. Seit mehr als 50 Jahren Mitarbeit in der Baltischen Historischen Kommission, Verfasser einiger auf die Heimat seiner Vorfahren Estland bezogene Werke sowie von Beiträgen zur Geschichte seiner Familie von Wistinghausen (1957), zur Geschichte der Rittergüter Estlands (1975), zur Kotzebue-Zeit in Reval (1995) und, zum Thema passend, einer Abhandlung über Freimaurerei in Estland am Beispiel der Revaler Loge Isis (2005). Henning von Wistinghausen war der erste Botschafter der Bundesrepublik Deutschland in Tallinn (1991 – 1994).

Es ist sicher nicht vermessen anzunehmen, dass das hier besprochene Werk die Krönung der Bemühungen darstellt, den Beitrag der Deutschbalten an der Kulturgeschichte Estlands zu würdigen. Das Material stammt aus 20 Archiven, wobei Freimaurerbestände der Revaler Logen im Archiv des Estnischen Geschichtsmuseums die wichtigste Grundlage für diese Dokumentation bilden.

Das Werk ist in drei Bände gegliedert. Jeder der beiden Bände 1 und 2 behandelt jeweils zwei Kapitel.

  • Band 1 (539 Seiten): Revaler Logen im Spannungsfeld der russischen Freimaurerei des 18. Jahrhunderts und eine Übersicht über Estland im letzten Viertel des 18. Jahrhunderts.
  • Band 2 (522 Seiten): Die Renaissance der russischen Freimaurerei bis zu ihrem Verbot durch Alexander I. und die wiedereröffneten Revaler Logen.
  • Band 3 ist ein biographisches Lexikon mit den Biographien von 411 Freimaurern aus Estland, Livland und St. Petersburg. Nahezu akribisch werden bei den einzelnen Personen Beziehungen und Querverbindungen angegeben.

Im Titel wird ein Zeitraum von 1773 – 1820 genannt. Tatsächlich arbeiteten die Revaler Logen nicht über einen Zeitraum von 47 Jahren, sondern nur 29 Jahre (21 Jahre im 18. Jahrhundert und acht im 19. Jahrhundert). Die erste Phase währte von 1773 (Gründung der Loge Isis) bis 1794 (Einstellen der Arbeiten auf Wunsch von Katharina II.) und von 1812 – 1820 (zwangweise Einstellung).

Vor allem die beiden Revaler Logen Isis und 3 Streithämmer werden in ihrer Geschichte, Sozialkultur und Leistungen ihrer Mitglieder für Aufklärung und Reformen ausführlich beschrieben. Juristen, Kaufleute, Offiziere und Pädagogen waren stark vertreten. 75 % der Mitglieder waren Landeskinder und etwa 20 % Eiwanderer. Nur 1,5 % der Mitglieder waren Russen. Die Revaler Logen pflegten über St. Petersburg hinaus keinen Kontakt mit Logen im großen Reich. In der Liste der Besucher (1778 – 1792) findet sich kein Mitglied einer russischsprachigen Loge. Eine wichtige Gruppe der Einwanderer bildeten Hofmeister, die als Hauslehrer auf den Rittergütern deutsche Sprache und Kultur lehrten. (10 wurden Mitglieder der Loge Isis.) Man lernt, dass ein wesentlicher Teil der Kulturgeschichte Estlands eng mit der Entwicklung der Freimaurerei im historischen Baltikum verbunden ist. Viele Brüder Freimaurer in Reval, Riga und St. Petersburg spielten eine entscheidende Rolle im politischen und gesellschaftlichen Umfeld am Ende des 18. Jahrhunderts und in den ersten 20 Jahren des 19. Jahrhunderts.

Kontakte der Revaler Loge Isis mit der Wiener Loge Zur wahren Eintracht und zum Journal für Freymaurer wurden von Johann Friedrich Freiherr von Ungern-Sternberg initiiert. Der Estländer Ungern-Sternberg wurde in Erlangen in den Bund aufgenommen und kam als 21-Jähriger nach Wien, wo er von April bis September 1784 einen Malkurs belegte. Als Freimaurer fand er bald Zugang zur damaligen, allgemein als Eliteloge angesehenen Bauhütte Zur wahren Eintracht. Es war für den jungen Mann ein Glückfall, am 13. August 1784 zusammen mit dem sehr populären Weltumsegler und Freimaurer Georg Forster als Meister in die Born’sche Loge Zur wahren Eintracht inkorporiert zu werden. Ungern-Sternberg lernte bei dieser rituellen Arbeit und dem Festmahl 80 prominente Freimaurer in der Residenzstadt Wien kennen. Nach seiner Rückkehr nach Estland trat er 1786 in eine Revaler Loge ein. Durch seine Vermittlung erschien im 1. Quartal 1786 im Wiener Journal für Freymaurer ein Bericht über die Loge Isis zu Reval.

Im Band II/1784 wird ausführlich über ein Waiseninstitut der Loge Zum Schwert in Riga berichtet, im Band II/1786 gibt es ein „Verzeichnis der sämtlichen Logen im Orient Russland“ (Nationalloge in Moskau, Provinzialloge in St. Petersburg). Es werden 15 Logen angeführt, darunter die Revaler Loge Zu den 3 Streithämmern. Sechs Logen arbeiten in der deutschen Sprache, die anderen auf Russisch. Berichtet wird auch über eine Einrichtung der St. Petersburger Loge Mildtätigkeit zum Pelikan, dass beim Ableben eines Bruder, der Witwe die Begräbniskosten bezahlt werden und bei Bedarf der Unterricht der Kinder besorgt wird.


Henning von Wistinghausen: Freimaurer und Aufklärung im Russischen Reich. Die Revaler Logen 1773 - 1820. Mit einem biografischen Lexikon. Köln: Böhlau 2016, 1417 Seiten. 59 s/w- und farb. Abb.: ISBN 978-412-50131-0. 1417 S.


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