Traktat: Peter Stiegnitz - Judentum und Freimaurerei

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Die Redaktion


Peter Stiegnitz (1936 bis 2017) war ein Wiener Freimaurer, der aus Ungarn stammte. Er hatte jüdische Wurzeln und überlebte als Bub mit viel Glück den Holocaust in Budapest und dann in einem ungarischen Dorf. In der österreichischen Freimaurerei hatte Peter Stiegnitz einen besonderen Namen. Nicht nur weil er fast ein halbes Jahrhundert dabei war, sondern auch weil er zum Kreis der führenden österreichischen Freimaurerdenker gehörte. Und weil er mehrere logenübergreifende hohe Ämter bekleidete.


Keine lebendige Tradition ohne Erinnerung

Die zum Schimpfwort degradierte Verbindung „Juden und Freimaurer“ gehört bekannterweise zum Vokabular der Rechtsextremen. Das betont auch Günter Kodek in seinen Werken. Der Autor zitiert in diesem Zusammenhang aus einer internen Information vom 4. Oktober 1882: „In der Grenzloge Humanitas wird aufgrund der antisemitischen Vorkommnisse in Pozsony (heute: Bratislava) von Viktor Schmidt sen. der Antrag eingebracht, die Freimaurerei möge durch die dem Bund nahe stehenden Abgeordneten im ungarischen Reichstag für Gesetze sorgen, die solche Vorkommnisse unter Strafe stellen.“

Uns kommen diese und ähnliche historische Zeugnisse aus den Büchern Kodeks leider mehr als nur bekannt vor. So zitiert der Autor einen Brief des Innenministeriums an die nationalsozialistische Gauleitung Wien vom 1. Dezember 1938, in dem die „Arisierung“ der „Apotheke Dr. Stumpf“ vorgeschlagen wird, da der Inhaber nicht nur Freimaurer, sondern auch mit einer „Volljüdin“ verheiratet sei. Der Brief schließt mit: „Es geht nicht an, dass ein Freimaurer und jüdisch Versippter für unseren Führer und seine Gefolgschaft Medikamente herstellt.“

Diese Vergangenheit lebt, wenn auch nicht in dieser brutalen Form auch in unserer Gegenwart weiter. Der katholische Priester Gottfried Melzer, Organisator der unseligen vom Innsbrucker Alt-Bischof Stecher verbotenen Wallfahrt zum „Anderl von Rin“, hetzt in seiner Zeitschrift „Anderl-Bote“ wiederholt gegen die „antichristliche Verschwörung von Juden und Freimaurern“.

Trotz dieser und ähnlicher Beispiele einer tiefen Unmenschlichkeit wäre es falsch, die essentielle Verbindung zwischen Judentum und Freimaurerei zu leugnen, da die Gemeinsamkeit zwischen dem jüdischen Glauben und der freimaurerischen Ideologie ohne Zweifel vorhanden ist:

  • Der s o z i o l o g i s c h e Aspekt ist historisch offensichtlich. Die Zahl der „jüdischen Brüder“ war vor allem auch in der österreichischen Kette relativ groß. Die in die bürgerliche Gesellschaft voll integrierten, assimilierten und meistens auch getauften Juden fanden in den weltoffenen, überkonfessionellen – und nicht „christlichen“ Logen – eine neue geistige Heimat.
  • Der r i t u e l l e Aspekt wurzelt in der mosaischen Schriftgebundenheit. Das freimaurerische Ritual ist schriftgebunden, unsere Dramaturgie schließt die alleinige Bildsprache aus. Daher bedürfen auch die Abbildungen masonischer Werkzeuge der verbalen Erklärung. Sie sind Symbole, die nicht für sich selber sprechen, sondern eine kognitive Deutung benötigen.
  • Der e s o t e r i s c h e Aspekt, stark mit dem rituellen verwandt, zeigt sich plastisch und einprägsam als „Bund der Freimaurer“. Auch der Begriff „Bund“ ist mosaischen Ursprungs. Denken wir dabei an die drei Bünde, deren ersten Gott noch mit einem Nichtjuden, mit Noah, schloss. Noah war gewissermaßen „überkonfessionell“. Erst einer sein Söhne, Sem, wurde Stammvater auch der Juden. Aus seinem Namen schuf der deutsche Historiker August Ludwig Schlötzer 1781 das erste Mal den Begriff „Semiten“. Den zweiten Bund schloss Gott, den der Beschneidung, mit Abraham und den dritten mit Mose und übergab ihm die „Zehn Gebote“. Genau genommen war Abraham, dieser Urvater aller drei monotheistischen Religionen, ein Universalist, ein Kosmopolit, wie es auch wir Freimaurer sind. Abraham war ein weltoffener, toleranter Mensch, der sich sehr viel um Fremde, um Nicht-Hebräer, kümmerte. Die „Haggada“, die erzählerische Überlieferung, berichtet, dass Abraham auf vielen Hauptverkehrsstrassen des Nahen Ostens Herbergen errichtete, wo die Vorüberziehenden kostenlos verpflegt wurden. Diese Gastfreundschaft gegenüber Fremden charakterisiert wohl auch unsere Einstellung.
  • Der p h i l o s o p h i s c h e Aspekt als Verbindungsglied zwischen Judentum und Freimaurerei hat zahlreiche Facetten. So darf ich hier den wohl wichtigsten jüdischen Schriftgelehrten Salomo ben Isaak (1040-1105), der in orthodoxen Kreisen besser unter dem Namen „Raschi“ bekannt ist, erwähnen, der davon überzeugt war, dass man die Bedeutung eines Wortes nur durch Studien und Nachdenken wirklich erfassen kann. „Du musst“, schrieb einst Raschi, „einfach nur die Schale eines Wortes, eines Satzes, eines Ausdrucks durchbrechen. Darin liegt alles und wartet auf dich.“ Wer sich ernsthaft mit unseren Ritualen auseinandersetzt, der geht, vielleicht auch ungewollt, diesen Weg Raschis. Wer also den wahren Inhalt eines Wortes sucht, der sollte zunächst die Form durchbrechen und die hier versteckte Bedeutung ausfindig machen.
  • Der i d e e l l e Aspekt der Freimaurerei ist auf den Gottesbegriff der Juden zurückzuführen. Der Name Gottes auf Hebräisch bedeutet so viel wie „Ich-bin-da“. Der volle Name lautet: „Ich bin da als der Ich-bin-da“. Diese existentielle Fixierung, diese unverrückbare Bestimmung eines allseits und immer-schon vorhandenen Gottes und die jüdische (und später die christliche und die muslimische) Lehre, dass der Mensch Gottes Ebenbild ist, führte geradewegs zur Menschenfixierung der Freimaurerei.

Das beste Kennzeichen des traditionellen wie des modernen Judentums ist seine „Vitalität“, die unaufhörlich neue Antworten, meist in Kommentarformen, auf alte wie zeitgenössische Fragen sucht und auch gibt. Diese Einstellung und auch geistige Gewohnheit zeichnet auch das stets lebendige Freimaurertum aus. Die in Kommentare gegossenen Antworten jüdischer Denkweise hat die Tradition des Disputs in die Welt gesetzt. Aus diesen Disputen entwickelte sich eine Debattenkultur, die sich hervorragend eignet, Dogmen aufzulösen. Dass sich auch hier große Parallelen, beispielsweise zu unseren Weissen-Tafel-Gewohnheiten auftun, muss wohl kaum extra betont werden.

Unsere freimaurerische Tradition sprudelt auch aus einer der Hauptquellen des Judentums, aus der „Vielfältigkeit“ des Denkens, Disputierens und Dokumentierens.

Es gibt keine lebendige Tradition ohne Erinnerung; auch nicht in der Freimaurerei. Auch diese „Erinnerungskultur“ ist jüdischen Ursprungs. Um das verständlich zu machen, erinnert uns die Pariser Philosophin Myriam Bienenstock („aufbau“ April 2010) an das hebräische Wort „sachor“ („Pflicht der Erinnerung“). Denken wir dabei, um nur ein Beispiel zu nennen, an die jüdische „Pessach-Haggada“, an die Geschichte des Auszugs der Hebräer aus der ägyptischen Unterdrückung. Dabei handelt es sich um eine bestimmte Erfahrung, „dass wir aus der Knechtschaft in die Freiheit geführt wurden.“ (Bienenstock). Auch hier ein lebendiger freimaurerischer Bezug: Im Dunkel des Kerzenlichts denken wir uns mit dem letzten Toast nach einer Rezeption nicht nur an unsere verstorbenen Brüder, sondern auch an die, welche heute irgendwo auf der Welt als Gefangene in Unfreiheit leben müssen. Der Gedankenzug von der „Knechtschaft“ in die „Freiheit“ ist überhaupt ein wesentliches Element der maurerischen Moral.

Die großen Gestalten des historischen Judentums, der verfolgten und Heimat suchenden Hebräer, Abraham, Isaak, Jakob und Moses, verewigt in der Thora, führten den unaufhörlichen „Disput mit dem Ewigen“ („aufbau“-Chefredakteur Yves Kugelmann). „Die Kommentare der Thora (Talmud) etablierte ein dialektisches Denk- und Diskussionswerk, das seinesgleichen sucht.“ (Kugelmann). Nun, man kann sehr wohl das „Seinesgleiche“ suchen und auch finden: in unserer Denk- und Handlungsweise innerhalb der Logen und, verständlicherweise gedeckt, auch in der Profanei.

In unserem Inneren suchen auch wir den „großen Disput“ mit dem Ewigen, wie wir Ihn auch nennen mögen; ob wir mit dem Ewigen „Gott“ oder „Natur“, „Energie“ oder „Schicksal“, aber auch schlicht und einfach nur das „Absolute“ bezeichnen, ist nicht entscheidend. Wichtig dabei ist und bleibt die innere Auseinandersetzung, das Hoffen und auch das Hadern mit der schöpferischen und erhaltenden Macht in und über uns. Genau diese Eigenschaft aller denkenden und fühlenden Menschen unterdrücken Materialisten und Atheisten. Und deshalb werden diese Brüder das „innere Geheimnis“ der Freimaurerei nie erfahren.

Der „große Disput“ – und auch das lehrt uns die jüdische Tradition – kann inmitten vom dargestellten Gott, von gemalten und figurierten Heiligen innerlich nie wirklich geführt werden. Daher ist es Juden verboten, wie schon erwähnt, Gott auf einem Bild darzustellen. Sie dürfen nicht einmal seinen Namen nennen oder gar schreiben, sondern nur „Jahve“ („Ich bin, der ich bin“) sagen. Fromme Juden nennen Gott nur „Adonai“.

Warum erwähne ich dieses Beispiel? Weil genau aus dieser verborgenen Gestalt Gottes erwächst unser „nicht-personifizierter“ Gott, der im Deismus der Aufklärung seine Heimat fand.

Die jüdische Tradition unserer freimaurerischen Quelle ist lebensbejahend und verlässt – wenn auch nur oberflächlich gedeutet – das Terrain der Religion im engeren Sinne und wächst zum allgemeinen Humanismus empor. Dazu ein Zitat aus der Thora: „Jeder Mensch ist eine ganze Welt. Wer einen Menschen tötet, der zerstört die ganze Welt. Aber wer einen Menschen rettet, der rettet die ganze Welt.“ Aus dieser Menschenliebe der jüdischen Tradition erwuchs unser freimaurerischer Humanismus.

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