Rezension: Karsten Oelckers – Großmeister Leo Müffelmann
Im Gleichschritt in den Untergang
Karsten Oelckers: Großmeister Leo Müffelmann
Richtungskämpfe innerhalb der deutschen Freimaurerei in den Jahren 1923 – 1934
Ein Buch, das die traurige Entwicklung der deutschen Freimaurerei zwischen den beiden Weltkriegen dokumentiert: immer mehr Nationalismus, ja sogar Nationalsozialismus; auch in den Logen. Dagegen kämpft nur eine kleine Minderheit. Bis die Nazis dem – man ist versucht zu sagen – masonischen Spuk ein Ende machen.
Rudi Rabe hat das Buch gelesen.
Der ideologische Hintergrund der freimaurerischen Richtungskämpfe war die Frage, ob die deutsche Freimaurerei mit den Logen der ehemaligen Feindstaaten wieder Beziehungen aufnehmen oder sich weiter nationalistisch einigeln sollen. Die große Mehrheit war gegen die Internationalität, nur eine kleine Minderheit dafür; deren Leitfigur wurde Leo Müffelmann.
Durch Originaltexte wird Vergangenheit zur Gegenwart
Wenn ich schreibe, das Buch ‚dokumentiert’ die Entwicklung, so meine ich das ziemlich wörtlich: Mehr als die Hälfte der gut 300 Seiten besteht aus Originaltexten, die Karsten Oelckers in jahrelanger Kleinarbeit zusammengetragen hat. In seinem Buch hat er sie dann chronologisch aufgefädelt und mit eigenen Texten verbunden. Dadurch erreicht er eine Authentizität, welche die damalige Entwicklung in einer Weise gegenwärtig macht, wie es durch bloßes Nacherzählen der Geschehnisse kaum möglich wäre. Der Autor nennt sein Buch auch selbst eine ‚quellenkundliche Arbeit’.
Allerdings: Diese Verlebendigung verlangt vom Leser ein Minimum an politisch-gesellschaftlichem Vorwissen über die Zeit nach dem Ersten Weltkrieg. Ebenso über die deutsche Freimaurerei jener Jahre: über ihre Richtungen und über den Druck, den eine zunehmend freimaurerfeindliche Umwelt auf sie ausübte. Es wird wohl dieser Druck sein, der den Autor bei aller Sympathie für Leo Müffelmann und seine Mitstreiter bewog, schon im Vorwort vor einem allzu trivialen Schwarz-Weiß-Lesen der Texte zu warnen, weil ganz allgemein gesagt „die Guten nicht so gut sind, wie sie sich dünken und die Schlechten nicht so schlecht, wie man sie macht.“ Damit wird er wohl nicht die Nazis meinen, wohl aber die Freimaurer jener Zeit.
Müffelmann wird hinaus gemobbt und gründet eine eigene Großloge
Bis über die Mitte des Buches hinaus zeichnet Karsten Oelckers anhand vieler Dokumente nach, wie Leo Müffelmann von der nationalistisch gewordenen Mehrheitsmaurerei bekämpft wird, bald auch in seiner eigenen Großloge Zur Sonne: von der Großlogenführung ebenso wie von Brüdern ganz unten, etwa aus seiner Berliner Nachbarloge. Um nur ein Beispiel von vielen zu nennen: Die Brüder dieser Loge unterschreiben schon 1926 eine Resolution, in der sie ultimativ die „Entfernung des Bruders M. von seinem Amt als Stuhlmeister der Loge ‚Bluntschli’ (damals Müffelmanns Loge) und folgend aus dem Verbande der Großloge ‚Zur Sonne’“ verlangen.“
Das ist aber erst der Anfang. Müffelmann kämpft noch bis 1929, doch schließlich gibt er auf. Mit Hilfe der völlig anders tickenden international orientierten und pazifistischen Wiener Großloge gründet er 1930 in Berlin seine Symbolische Großloge von Deutschland. Sie wird von allen anderen deutschen Großlogen geschnitten.
Bei Lesen dieser Kapitel ging es mir wie so oft, wenn ich Originaltexte jener Zeit vor mir habe: Ich weiß, wie schrecklich das alles endete, so dass ich den freimaurerischen Protagonisten über die Jahrzehnte hinweg zurufen möchte: Seid ihr verrückt?! Hört auf! Eure Aggressionen treffen die Falschen! Bereitet Euch besser auf das Überleben in einer sehr dunklen Zeit vor!
Aber das ist illusionär, klar. Die Ereignisse nehmen ihren Lauf, die allermeisten deutschen Großlogen biedern sich den Nazis in einer heute kaum glaublichen Weise, ja Unterwürfigkeit an: Schon zwei Jahre vor Hitlers Machtergreifung versuchen die ersten, mit ihm zu verhandeln. Sie bieten den Nazis an, ihre Logentraditionen zu germanisieren, und sie tun es dann auch. Es nützt alles nichts: Hitler zwingt sie nach der Machtübernahme 1933 zur Selbstauflösung. 1935 wird die letzte Großloge geschlossen.
Leo Müffelmann sperrt seine Symbolische Großloge in Deutschland schon wenige Wochen nach Hitlers Machtergreifung 1933 zu, also noch bevor die Nazis wirklich Ernst machen. Er weiß, dass es aus ist, und es gelingt ihm, die Großloge ins britische Mandatsgebiet Palästina zu transferieren. Dort überlebt sie als masonische Heimat für deutsch sprechende Einwanderer. Ironie der Geschichte: So wird die vor 1935 von weit mehr als neun Zehntel der deutschen Freimaurer vehement abgelehnte ‚Symbolische Großloge von Deutschland’ nach 1945 zur einzigen masonischen Kontinuität für den Neuanfang.
Ein besonderes Dokument: Müffelmann im Gefängnis und im KZ
Doch Müffelmann hat 1933 nicht mehr lang zu leben. Im Herbst verhaftet ihn die Gestapo. Es beginnt ein dreimonatiger Leidensweg: zuerst im Polizeigefängnis und dann im KZ Sonnenburg.
Was ihm dort widerfährt, verarbeitet er in einem Tagebuchtext. Diesen druckt Karsten Oelckers auf mehr als dreißig Seiten im Wortlaut ab: eines dieser schrecklichen Dokumente menschlicher und bürokratischer Nazi-Grausamkeit ... von der Unklarheit, was man Müffelmann eigentlich vorwirft über die menschliche Entwürdigung bis zu den Schlägen mit dem Gummiknüppel.
Nach fast drei Monaten lassen die Nazis Müffelmann Ende November 1933 ohne weiteres Verfahren wieder frei. Gesundheitlich erholt er sich, wirtschaftlich ist er ruiniert.
Im Frühjahr 1934 gelingt es ihm, noch einmal nach Palästina zu reisen, wo er mit masonischen Ehren überhäuft wird. Es ist aus heutiger Sicht völlig unverständlich, warum er wieder zurückkehrt. Auch was er in den Monaten danach in Deutschland erlebt, ist verdächtig unbekannt. Bekannt ist nur: Am 28. August wird er ins Krankenhaus eingeliefert. Und am 29. August 1934 stirbt Leo Müffelmann. Amtliche Todesursache: Rippenfellentzündung. Das kann man glauben oder auch nicht.
Ein spannendes Buch, das die Zeiten überdauern wird ...
... einfach weil so viel Sammelarbeit drinnen steckt. Eigentlich ein wissenschaftliches Werk. Spätere Autoren werden darauf zurückgreifen können.
Karsten Oelckers: Jahrgang 1947; ein Lübecker Bankkaufmann, der in Berlin lebt; Freimaurer seit 1985, zuerst christlich dann humanitär. Vielfacher Stuhlmeister und weitere masonische Mitgliedschaften.
Das Buch erschien 2014 im Salierverlag Leipzig; dieser publiziert regelmäßig auch Freimaurerbücher.
Siehe auch: