Traktat: Zur Vorgeschichte der Freimaurerei

Quelle/Autor: Philipp Gerlach
Diese Zeichnung ist ein Versuch, einen knappen Abriss der institutionellen und geistigen Vorgeschichte der modernen Freimaurerei zu geben.
Vorwort
Euch wird schnell klar werden, dass die Vorgeschichte, wie ich sie verstehe, wenig mit dem Identitätsnarrativ der Freimaurerei zu tun hat. Ich werde keine direkten Verbindungen zu den Kreuzzügen, dem Salomonischen Tempelbau oder Adam und Eva ziehen. Derartige Identitätsnarrative mögen unterhaltsam sein, gar zu den Zusammenhalt unter den Brüdern stärken und auf Außenstehende eine gewisse Faszination auswirken, insofern also einen gewissen Zweck erfüllen. Ich persönlich empfand sie immer eher als irritierend und mehr auf Wunschdenken als auf Tatsachen basierend. Aber jeder Bruder möge sich frei fühlen, mir zu widersprechen.
Was geschah vor 1717?
Die geschichtliche Beginn der Freimaurerei wird oft auf London, 1717 datiert. In diesem Jahr kam es angeblich im 'Ale House at the Goose and Gridiron’ zur Gründung der ersten ]Großloge. Wie aber kam es dazu?
Beginnen möchte ich unsere Reise in die geistige und institutionelle Vorgeschichte im europäischen Mittelalter. Konkret: In der Zeit des 12. Jahrhunderts. Man findet in dieser Zeit bereits viele der Werkzeuge, die bis heute die Freimaurerei kennzeichnen. Es gab zudem bereits im Mittelalter Institutionen, aus den sich später indirekt die Logen entwickelten. Es handelt sich dabei um die gotischen Dombauhütten und die Steinmetzbruderschaften — und nicht, wie oft fälschlicherweise angenommen, um mittelalterliche Zünfte oder gar Gilden. Der Grund ist schlicht: Es gab im Mittelalter sehr wahrscheinlich kaum Zünfte der Steinmetze. Eine größere Verbreitung derartiger Zünfte taucht erst in der Renaissance auf, also in einer Zeit als das Mittelalter bereits abgelöst wurde. Später mehr zu dieser Zeit!
Aufschlussreich scheint mir die Frage, warum es eigentlich so wenige Zünfte der Steinmetze im Mittelalter gab. Der Grund ist schlicht — und folgenreich. Zünfte waren in Städten angesiedelt. Im Europa des Mittelalters bestanden Städte aber überwiegend aus Holzbauten. Entsprechend waren Steinmetze meist nur in geringer Zahl, gleichzeitig und dauerhaft an einem Ort beschäftigt.
Eine wichtige Ausnahme zur ihrer geringen Konzentration stellte die kirchliche, v.a. die gotische Großbaustelle dar.
Auf den kirchlichen Großbaustellen des Mittelalters wurde grundsätzlich zwischen Zunft, Bauhütte und Steinmetzbruderschaft unterschieden. Und es sind die letzteren, also die Bauhütten und Steinmetzbruderschaften, die zur heutigen Freimaurerei beigetragen haben: institutionell wie geistig.
- Zu den Bauhütten: Bauhütten waren Werkstattverbände, die unterschiedliche Handwerker koordinierten und den Bauablauf organisierten. Bauhütten waren also meist lokale Organisationen der am Dombau beteiligten Handwerker und Dienstleister. So gab es in den Bauhütten, neben den Steinmetzen, auch Holzarbeiter, Küchenpersonal, Schmiede und Dienstleister (z.B. für Schlafstätten, Inventar etc.). Steinmetze waren also meist Mitglieder einer Bauhütte — aber sie waren dort bei weitem nicht die einzigen Handwerker. Und Handwerker wiederum waren nicht die einzigen Mitglieder der Bauhütte. Im Englischen nennt man Bauhütte übrigens ‘lodges’, worin sich bereits eine namentliche Verwandtschaft zur Freimaurerei zeigt.
- Zu den Steinmetzbruderschaften: Steinmetzbruderschaften vertraten immerhin überregional, wenn auch äußerst lose die Interessen der Steinmetze. Steinmetzbruderschaften kamen in Westeuropa an verschiedenen Orten und Zeitpunkten auf, gesichert ab dem 11. Jahrhundert. Ein Grund für das Auftreten der Steinmetzbruderschaften war: Steinmetze waren anderen Handwerkern gegenüber prinzipiell benachteiligt, da sie ja i.d.R. nicht zünftig organisiert und oft zum Vagabundieren gezwungen waren. Dies trat insbesondere dann auf, wenn Bauhütten bei Bauabschluss aufgelöst oder Bautätigkeiten bei Geldmangel eingestellt oder reduziert wurden.
Also, um es kurz festzuhalten: Mittelalterliche Vorläufer der modernen Freimaurerei waren v.a. 1. Dombauhütten und 2. Steinmetzbruderschaften.
Es ist wichtig, diese Institutionen in ihrem gesellschaftlichen Kontext zu sehen — und von ihren antiken Vorläufern abzugrenzen. Auf den mittelalterlichen Großbaustellen gab es beispielsweise keine Sklavenarbeit, im Gegensatz zur Antike. Es war vielmehr eine Gemeinschaft von Schaffenden, die gemeinsam ein sakrales Werk errichteten. Zu den Schaffenden stießen auch immer wieder Laien, also Leute, die sich oft freiwillig und insb. ihres Seelenheils, nicht aber ihres Berufs wegen, am Kirchenbau beteiligten. Insofern liegt es nahe, dass der Arbeit der gotischen Kathedrale, über ihren alltäglichen, baulichen Charakter hinaus, auch eine geistige Bedeutung zukam: Es verleiht doch eine höhere Weihe an einem heiligen Bau mitzuwirken, gerade wenn man dessen Vollendung nicht mehr erleben wird.
Steinmetze werden zünftig
In der Renaissance, also im 16. Jahrhundert, kommt es zu einem langsamen, aber allmählichen Bruch mit der Bautätigkeit — und auch der geistigen Ausrichtung des irdischen Lebens auf das Jenseits. Und in der Renaissance finden wir auch bereits deutlich konkretere Vorformen der modernen Freimaurerei. Dazu zählten dann schließlich auch die Zünfte der Maurer und Steinmetze. Es sind also die Steinmetz-Zünfte der Renaissance, nicht aber des Mittelalters, die wir durchaus zu unseren Vorformen zählen können.
Wieso aber in der Renaissance? Kurz gefasst wendeten sich die Menschen in der Renaissance allmählich wieder den antiken Idealen zu. Dies betraf auch das Bauen. Nach Vitruv, einem römischen Architekten des 1. Jahrhundert vor Christus, sollten Erbauer gebildete Architekten sein, die den Sinn hinter Ihren Bauten verstehen. Entsprechend machte die neu aufkommende Profession der Architekten der Bauhütte große Konkurrenz. Parallel zu den geistigen Veränderungen führten die demographischen und wirtschaftlichen Folgen der Pest (14. Jahrhundert) und des Hundertjährigen Krieges (1337-1453) zu geringeren Bautätigkeiten an Kirchen. Diese Entwicklungen zwangen Steinmetze sich neu auszurichten.
Die Steinmetze wanderten daher zunehmend in die Städte ab, in denen man nun mehr und mehr mit Stein baute. Hier wurden die Steinmetze auch oftmals zünftig. Mitglied der Zunft konnten übrigens nur freie Steinmetze werden, die eine untadelige Lebensführung und eine anerkannte handwerkliche Ausbildung vorzuweisen hatten. Den Zünften stand je eine gewählter Stuhlmeister vor. Die übrigen Brüder waren gleichberechtigt, sofern sie Gesellen waren. Der Meister wurde unter den Gesellen gewählt und war kein eigener Grad. Es fanden regelmäßige Treffen statt, in denen über Angelegenheiten beraten wurde. Es gab zudem Regelwerke (sog. Steinmetzordnungen), die das Handwerk und die Beziehungen der Beteiligten (Lehrlinge, Gesellen und Meister) beschrieben und sogar eine gewisse Gerichtsbarkeit.
Bei den Zünften der Renaissance entdecken wir also bereits sehr konkrete Elemente, die recht unmittelbar in die moderne Freimaurerei tradiert wurden. Ähnliches gilt auch für das Wissen und die Bräuche der Steinmetze. Diese wurden ja in aller Regel mündlich überliefert — inkl. Passwörter, Erkennungszeichen, Symbole und das Wissen über geometrische Gesetze. Architektur ist ja, in gewisser Weise, angewandte Geometrie. Und die Weltanschauung der Renaissance erforderte, wie gesagt, dass sich die Erschaffer mit ihrem Erbauten auch theoretisch auseinanderzusetzen hatten. Um sich die Begriffe und Theorien besser einprägen zu können, griffen die Zunftmitglieder daher auf eine ‘ars memorandi’ zurück, also einer Gedächtnis-Technik, bei der sich Begriffe und Theorien durch deren Positionierung in einem Raum gemerkt wurden. Diese ‘ars memorandi' findet sich bis heute in unseren Ritualen wieder: Bestimmte Symbole haben ihren festen Platz in der Loge und prägen sich somit, durch räumliche Assoziation und ständiges Wiederholen, im Gedächtnis ein.
Beginn der Maurerei in Schottland
Eine folgenreiche Entwicklung der Zünfte fand sodann auf den britischen Inseln statt, konkret: in Schottland. Die schottische Renaissance setzte deutlich später als in Kontinentaleuropa ein und entfaltete sich erst gen Ende des 16. Jahrhunderts voll. Eine wichtige Figur in ihr war Jacob VI (1566-1625). Die Zeit Jacobs war geprägt von Auseinandersetzungen zwischen Katholiken und Protestanten. Die Protestanten rissen Kirchen nieder und zerstörten ihre Bilder. Und die Katholiken verhielten sich nicht viel besser in diesem Bürgerkrieg. Jacob VI, selbst Katholik, untermauerte seinen Herrschaftsanspruch, indem er wieder Kathedralen errichteten ließ. Diese Wiederbelebung des Bauens stieß natürlich unter den Steinmetzen auf große Zustimmung, da sie so wieder zu gesicherter Arbeit kamen.
Ein wichtiger Berater Jacobs in Sachen Kirchenbau war William Schaw (ca. 1550-1602). Schaw, selbst Protestant, kam wohl gut am katholischem Hofe Jacobs zurecht. Schaw versuchte die Steinmetze als loyale Gruppe an den König zu binden, indem er ein Narrativ und ein Ritual erfand, das den Steinmetzen schmeichelte. Es verbanden die Profession der Steinmetze mit dem Christentum einerseits und der Antike andererseits. Dies war vielleicht als Identitäts- und Legitimationsnarrativ wichtig, weil in der Renaissance Christentum und Antike hoch im Kurs standen. Gleichzeitig forderte Schaw weltanschauliche Toleranz innerhalb der Logen. Dies mag nicht überraschen: Schaw war ja Protestant unter Katholiken.
Die von Schaw gegründeten Logen, die sog. ‘Schaw Statutes’, beriefen sich auf einen Kodex und öffneten sich zunehmend anderen Professionen gegenüber. Ziel war es, v.a. Adlige als externe Fördermitglieder in die Zunft aufzunehmen, um diese mit Macht und Geld zu versorgen. Zu den externen Fördermitglieder zählten entsprechend auch Frauen. Als Gegenleistung bot man den Fördermitgliedern ein zeremonielles Ritual.
Der Begriff ‘Angenommene Maurer’ (‚accepted masons’) spiegelt diese Tatsache bis heute wieder. Angenommene Maurer sind ja eben keine Steinbildhauer von Beruf. Ihre zunehmende Zahl in den Logen führte dazu, dass die Freimaurerei zu dieser Zeit auch ‘Acception’ genannt wurde. Es ist der Ursprung der spekulativen Maurerei.
Vermutlich kam in dieser Zeit auch der Mythos auf, dass es ein Geheimnis unter den Steinmetze gäbe. Das englische Wort ‘mystery' leitet sich nämlich vom Lateinischen ‚mystere’ ab, also der Meisterei (‚mastery‘). Mit dem Geheimnis der Maurerei war insofern ursprünglich wohl einfach nur die Handwerkskunst der Steinmetze gemeint.
Möglicherweise waren gerade die Steinmetze besonders zugänglich für die von Schaw geschaffenen Rituale, da sie ihnen einen alt-ehrwürdigen Charme verliehen. Steinmetze dürften kaum über eine große Tradition von Ritualen verfügt haben. Sie waren ja lange Zeit gerade nicht zünftig. Und die Steinmetzbruderschaft war, wie gesagt, eher eine lose Verbindung, die kaum in der Lage gewesen sein konnte, Passwörter, Erkennungszeichen, Symbole und Wissen über viele Generationen und Orte mündlich zu tradieren. Jeder der das Spiel ‘Stille Post’ kennt, weiß, wie schnell sich derart übermittelte Informationen verändern.
Der Weg nach England
Die ‚Schaw Statutes‘ wurden wahrscheinlich durch royalistische Armeen im Englischen Bürgerkrieg (1642-1649) von Schottland nach England gebracht. In England, insb. in London fiel die die ‘Acception’ auf besonders fruchtbaren Boden. London war 1666 durch ‘den großen Brand’ großflächig abgefackelt, was einen Bauboom zur Folge hatte — insb. auch für Kirchen. Christopher Wren (1632-1723) beispielsweise ließ allein in London über 50 Kirchen errichten, darunter auch St. Paul Cathedral (1675-1708), bis heute der Londoner Bischofssitz und Mutterkirche der Londoner Diözese. In der Nähe von St. Paul befand dann auch ein Lokal namens ‘Ale House at the Goose and Gridiron’. Und eben dort kamen am 24.7.1717, also am St. Johannistag, angeblich 4 lokale Logen zusammen, um die ‘Grand Lodge of London & Westminster’ zu gründen.
Zum Zeitpunkt der Gründung durfte der Einfluss der ‚Grand Lodge’ kaum über London hinaus Geltung gehabt haben — wenn überhaupt in London selbst. Das Treffen war vermutlich ein festlicher Schmaus, inkl. Besäufnis. Wenn es überhaupt stattfand, es gibt erhebliche Zweifel daran. Das Jahr 1717 gilt trotzdem vielen als der Beginn einer zentralisierten Form der Freimaurerei (was stimmt) und wird oft als Gründungsdatum der Freimaurerei angesehen (was nicht stimmt: damit wird eben die pan-europäische und insb. schottische Entstehungsgeschichte komplett ausgeblendet.)
Freimaurerei wurde somit Teil der Londoner Club Szene. Und aus dieser waren Frauen traditionell ausgeschlossen. Es war insofern wenig überlaschend, dass die Gründung der Großloge auf viel Unmut unter den Brüdern und insb. den Schwestern stieß, da sie als zentrales Organ versuchte, den anderen Logen Vorschriften zu machen.
Mit der Verlagerung des Schwerpunktes von Schottland nach England und der Gründung der ‘Grand Lodge’ änderte sich die Logenkultur im Laufe der Zeit erneut. Es kam zu immer mehr Neugründungen von Logen, die rein spekulativ arbeiteten, also gar keine Steinmetze im eigentlich Sinne mehr waren. Damit wurde langfristig aus einer sich in Wirtshäusern treffenden eigenständigen Verbindungen (wie es ja noch im ‘Goose and Gridiron’ passierte) ein exklusives Netzwerk von Clubs mit ethisch-humanitären Charakter. Man darf sicher den Reiz nicht unterschätzen, der sich aus diesem Charakter, der Exklusivität, der Arkan-Disziplin, dem Toleranz-Gedanken und vielem mehr ergibt. In einer Zeit, die von Religions- und Bürgerkriegen geprägt war, erlaubten die Logen zumindest den gehobenen Klassen über Trennendes hinwegzuschauen. In den Logen saßen ja Whigs neben Torries, Adlige neben Bürger, Katholiken neben Protestanten, sogar Juden. Außerdem war man gesellig. Es wurde tüchtig getrunken und geraucht. Auch das waren sicher schon damals gute Gründe, Freimaurer zu werden.
Machen wir uns klar, dass wir auf Schultern von Giganten stehen. Dafür brauchen wir kein Identitätsnarrativ. Die realen Gründe sind anregend genug.
